Sonntag, 4. Februar 1945
Gestern hatte Gertrud mich gebeten, die Jungmädels bei ihrer Sammelaktion für Altkleider zu betreuen, weil Elfriede, ihre Scharführerin krank geworden war. Da mir spontan keine Ausrede eingefallen war, hatte ich mich dazu bereit erklärt, und so musste ich meinen Sonntag im BDM-Heim verbringen und Kleider sortieren.
Die Sammelaktion war Teil der Aktion „Volksopfer", die Minister Goebbels Anfang des Jahres ausgerufen hatte. Alle Volksgenossen waren dazu aufgefordert worden, Kleidungsstücke und Ausrüstungsgegenstände für Frontsoldaten und Volkssturm zu spenden. Ich nahm die gesammelten Kleidungsstücke entgegen, die die Jungmädels in Schubkarren herbeibrachten - löchrige Mäntel, zerschlissene Leinenhosen und kaputte Lederschuhe. Sogar allerhand alte Gebrauchsgegenstände waren darunter.
Früher, als ich noch selbst als Jungmädel von Haus zu Haus gezogen bin, ist mehr zusammen gekommen. Aber es war auch jetzt noch ein beachtlicher Haufen, wenn man bedenkt, dass viele Menschen so wenig haben und neue Kleidung nicht gerade leicht zu bekommen ist. Offenbar gibt es noch genügend Deutsche, die sich in Freigebigkeit und Opferbereitschaft für das Vaterland üben wollen. Es könnte aber auch daran liegen, dass auf die Unterschlagung von Sammelstücken hohe Strafen stehen ...
Ich schaute von dem Kleiderstapel auf dem Tisch in die Gesichter der Zwölfjährigen. Ihre Augen leuchteten und die Wangen waren gerötet von der Winterluft, aber auch vor Freude und Stolz über ihren Sammelerfolg. So war ich auch einmal.
„Gut gemacht", lobte ich sie.
Dann teilte ich einige der Mädels ein, mir beim Sortieren der Kleidung zu helfen: ein Stapel für die gut erhaltenen Stücke und einer für solche, die schon zu kaputt waren, um sie weiter zu benutzen. Die würden in die Kleidungsfabriken gehen, wo sie Soldatenuniformen daraus herstellten. Es wird alles wiederverwertet, selbst die Uniformen gefallener Soldaten werden gereinigt und geflickt. Das hatte mir Margot erzählt, deren Mutter seit einiger Zeit in so einer Fabrik arbeitet. Die Vorstellung von bluterstarrten Stofffetzen, von Uniformen mit fehlenden Armen und Einschusslöchern, die keinen Zweifel an der Todesart ihres Trägers ließen, ist schauerlich.
Die anderen Sachen werden wohl an die Flüchtlinge aus den Ostgebieten verteilt werden, die ihre Habe größtenteils zurücklassen mussten. Oder an ausgebombte Leipziger.
Während ich die Stapel überprüfte und alles auf eine Liste schrieb, fiel mir unter den Hosen, Mützen und alten Hemden ein gefütterter Wollmantel auf. Die rechte Tasche fehlte, einige Knöpfe waren abgerissen und der Kragen war mottenzerfressen, aber sonst schien er noch gut erhalten zu sein. Ich befühlte den dicken Stoff und musste sofort an Ilses Vater denken, der sich bei der Kälte irgendwo draußen versteckte und noch dazu krank war. Er könnte diese Mantel bestimmt gut gebrauchen.
Würde es irgendjemandem auffallen, wenn ich einen Mantel weniger beim Amt abgeben würde? Ich war die Einzige, die alle Stücke durchgezählt hatte. Ich musste nur einen Radiergummi nehmen und diesen einen Strich entfernen ...
Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, folgte ich meinem ersten Impuls. Als die kleinen Mädchen gerade nicht hinschauten, faltete ich den Mantel so klein zusammen wie möglich und ließ ihn unter dem Tisch in meinem großen Korb verschwinden. Damit hatte ich später noch zu Onkel Philip fahren wollen, um weitere Nahrungsmittel zu ergattern, aber jetzt hatte ich einen noch dickeren Fisch gefangen. Ich war so aufgeregt, dass ich glaubte, mein Gesicht müsse mich verraten. Doch niemand schöpfte Verdacht.
Ein wenig drückte mich das schlechte Gewissen dennoch, als ich mit dem Korb unterm Arm (der Mantel war versteckt unter dem Handtuch, das ich darüber gebreitet hatte) durch die Straßen nach Hause eilte. Jetzt liegt der Mantel in einer hintersten Ecke meines Schrankes und ich habe das Gefühl, eine tickende Bombe im Haus zu haben. Was ist nur los mit mir? Erst Schwarzhandel, jetzt Diebstahl ... Wenn das so weitergeht, gewöhne ich mich noch daran.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...