Mittwoch, 13. September 1944
Diese Erika Weidenpesch ist doch wirklich unmöglich! Da bewirft sie Ilse in der Pause mit Papierkügelchen. Sind wir etwa im Kindergarten? Ilse tat, als hätte sie nichts gemerkt, aber ich hätte am liebsten irgendetwas zurückgeschmissen. Etwas Hartes!
Und dann hatten wir heute auch noch Rassenkunde in Biologie. Herr Beck, unser Lehrer, ist ein kleiner Mann mit mausgrauen Haaren, der immer so wirkt, als wollte er lieber nicht gesehen werden. Kein Wunder, dass ihn die Klasse meist erst wahrnimmt, wenn Ursel ruft: „Herr Beck ist im Raum. Ruhe bitte!"
Er hat eine hohe Stimme und es fällt mir schwer, seinen einschläfernden Monologen zu lauschen. Heute begann er wieder mal mit einem Vortrag über die Unterschiede zwischen den Rassen, seinem Lieblingsthema.
„Wir bezeichnen die nordische Rasse als die wertvollste der uns artverwandten Rassen. Sie hebt sich hervor durch die edle Schönheit des nordischen Menschen, aber auch durch seine besonderen geistigen Fähigkeiten, seinen heldischen, kämpferischen Einsatz. Deshalb ist man darauf bedacht, gerade diese Rasse möglichst rein zu erhalten. Man spricht hierbei von Aufnordung. Um der Gefahr des Herabsinkens der nordischen Rasse zu begegnen, hat man in Deutschland Gesetze herausgegeben, wonach es verboten ist, dass sich reinrassige Menschen mit fremdrassigen mischen. Demnach darf ein Arier keinen Juden heiraten oder einen Menschen, der einer artfremden Rasse angehört. Dieses wird in Deutschland durch die Nürnberger Gesetze verhindert."
Erika hob den Arm und stand auf, als Herr Beck sie aufrief. „Ich habe eine Frage. Wie steht es mit der slawischen Rasse? Dazu gehören doch die Polen und Russen und all solche, nicht wahr?"
Mir wurde heiß, weil ich an Ilse denken musste. Ob Herr Beck wusste, dass ihr Vater Pole ist? Ich wagte es nicht, mich nach ihr umzudrehen.
„Nun, das ist richtig, ja", dozierte Herr Beck. „Die slawische oder ostbaltische Rasse ist untersetzt und kurz gewachsen, meist mit Stupsnase und flacher Stirn. Sie zeichnet sich aus durch Charakterlosigkeit und Unstetigkeit und ist nur für niedrigere Arbeit geboren. Mit Angehörigen jener Rassen zu verkehren sollte man vermeiden."
Erika schaute erst triumphierend mich an, dann zu Ilse, die sich in ihrer Ecke noch kleiner machte als sonst. Obwohl ihr die Haare wieder ins Gesicht fielen, sah ich, dass sie dunkelrot angelaufen war. Ich biss die Zähne zusammen. Zum Glück endete die Stunde, bevor Herr Beck dazu übergehen konnte, uns alle nach unseren Stammbäumen zu fragen.
In der Mittagspause hielt ich mich von Erika und den anderen fern und suchte auf dem Schulhof nach Ilse. Schließlich entdeckte ich sie auf einer Treppenstufe, die seitlich am Schulgebäude zum Keller hinunterführt. Sie war in ein Buch vertieft und schien nichts um sich herum wahrzunehmen.
Zögernd trat ich zu ihr heran. „Darf ich mich hinsetzen?"
Sie blickte gehetzt von ihrem Buch auf und wollte schon von ihrem Platz aufspringen, doch ich legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Nein, nein, bleib sitzen. Ich meinte, darf ich mich zu dir setzen?"
Obwohl wir schon öfter in den Pausen einige Worte gewechselt hatten, schien Ilse noch immer überrascht zu sein, dass sich irgendjemand freiwillig mit ihr abgeben wollte. Sie schob ihre Brille hoch und wirkte unschlüssig. Doch schließlich nickte sie. Ich ließ mich neben ihr auf die Stufe sinken und holte schweigend mein Essen heraus, während sich Ilse wieder in ihr Buch vertiefte. Ihre langen dunklen Haare fielen ihr vors Gesicht, sodass ich von der Seite nur ihre Nasenspitze sehen konnte.
Ich knabberte an meinem Butterbrot und ließ mir die warme Sonne auf den Rücken scheinen. Schweigend saßen wir eine Weile nebeneinander. Ich schielte immer wieder zu ihr hin, doch sie ließ sich nicht im Lesen stören, schob nur ab und an ihre Brille auf der Nase nach oben.
Schließlich fragte ich: „Was liest du?"Sie schaute mich kurz an und blickte wieder auf ihr Buch herunter. Dann klappte sie es zu, damit ich den Einband sehen konnte. „Jane Eyre" von Charlotte Bronte.
Ich hatte davon gehört, es aber noch nicht gelesen.
„Das kenne ich noch nicht", sagte ich.
„Ich kann es dir leihen, wenn ich fertig bin", erwiderte Ilse mit ihrer leisen, aber melodischen Stimme. „Es ist wirklich interessant."
„Gerne! Liest du viel?"
„Sehr viel. Alles, was ich in die Finge kriege."
„Ich auch. Hast du nichts zu essen dabei?", fragte ich sie, als mir auffiel, dass Ilse noch keinen Bissen zu sich genommen hatte, obwohl die Pause bald vorbei war.
Sie schüttelte den Kopf. „Heute habe ich mein Brot meinem Bruder gegeben."
„Du hast einen Bruder? Wie alt ist er?"
„Dreizehn, und Jakob heißt er. Er wächst doch noch, deshalb braucht er mehr Essen. Und es gibt nur wenig zur Zeit", sagte sie.
Ich betrachtete ihre dünnen Handgelenke, die fast so zerbrechlich wirkten wie Vogelknochen. Dann griff ich kurzentschlossen in meine Brotbüchse und reichte ihr den Apfel, den ich mir als Nachtisch aufgehoben hatte.
Ihre dunklen Augen hinter den Brillengläsern werden noch größer.
Ich nickte ermutigend und drückte ihr den Apfel in die Hand. „Ich hatte schon mein Brot."
„Aber --"
„Dafür, dass du mir Gesellschaft leistest."
Ihre Lippen formten ein feines Lächeln. „Danke." Sie biss zaghaft ab.
Wir plauderten noch eine Weile und es stellte sich heraus, dass wir vieles gemeinsam haben. Unsere Lieblingsfächer sind Musik und Deutsch und wir lieben beide die Bücher von Karl May. Über ihre Familie sprach Ilse nur wenig und ich bohrte nicht nach.
Am Ende der Pause hatte ich das Gefühl, gerade eine Freundin gewonnen zu haben. Ich frage mich, was wohl Gertrud dazu sagen würde.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...