Dienstag, 16. Januar 1945
Heute am späten Nachmittag fasste ich mir ein Herz. Mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen über meine lange Abwesenheit und Angst vor dem, was ich da tat, ging ich durch die bereits dämmrigen Straßen, an zerbombten und ausgebrannten Häusern vorbei, bis ich vor Ilses Haus stand. Hier sah alles noch intakt aussah, Gott sei Dank. Aber was würde ich drinnen vorfinden? Die Haustür war unverschlossen, wie beim letzten Mal. Wahrscheinlich wurde sie nur nachts abgeschlossen.
Mit flatterndem Magen stieg ich die Stufen hinauf. Fast verließ mich erneut der Mut, als ich vor der Wohnungstür ankam. Ich musste mich dazu zwingen, die Klingel zu betätigen. Ich klingelte einmal. Zweimal. Es kam niemand. Ich wartete und klingelte erneut, doch noch immer rührte sich nichts. Sofort überschlugen sich in meinem Kopf die Schreckensszenarien. Wenn man sie nun alle geholt hatte? Musste Ilse jetzt in so einem Lager schuften wie die Häftlinge, die Vati beschrieben hatte?
Bevor meine Fantasie überhandnehmen konnte, klopfte ich ein letztes Mal und rief leise: „Hallo?"
Ich wollte mich schon abwenden, da öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt breit und Ilses große Augen lugten hindurch. Ich seufzte erleichtert.
„Luise?", flüsterte sie, sobald sie mich erkannt hatte, und zog die Tür weiter auf. Mit unruhig umherwandernden Augen schaute sie sich im Hausflur um.
Auf einmal kam ich mir schrecklich dumm vor. Ich hätte mir überlegen sollen, was ich zu ihr sagen würde, wenn ich vor ihr stand. Wollte sie mich überhaupt sehen? Nach unserem letzten Abschied würde es mich nicht wundern, wenn sie mich abwies.
„Hallo, Ilse", brachte ich hervor. „Ich wollte nur fragen, wie es euch geht." Ich presste die Hände zusammen und versuchte mich an einem Lächeln.
Ilse starrte mich schweigend an. Würde sie mir jetzt die Tür vor der Nase zuschlagen? Doch plötzlich trat sie ins Treppenhaus und umarmte mich. Nur ganz zart und flüchtig, sodass ich gar nicht darauf reagieren konnte, aber die Geste machte mich noch verlegener. Diese Freundlichkeit hatte ich nicht verdient.
Dann zog sie mich in die Wohnung und schloss vorsichtig die Tür hinter mir. „Schön, dass du da bist", sagte sie mit gedämpfter Stimme.
„Wie geht es dir?" Ich musterte sie. Ilse schien noch dünner geworden zu sein. Ihr sowieso zartes Gesicht war knochig und ihre Handgelenke wirkten so dünn wie Stöckchen. Ich hätte etwas zu Essen mitbringen sollen. Aber was? Wir haben ja selbst nicht viel.
„Mir geht es gut", wisperte sie und blickte sich immer wieder um.
Die nackte Glühbirne an der Decke und die kahlen Wände vermittelten kein einladendes Bild. In der Ecke stand ein gepackter Koffer.
„Störe ich?", fragte ich.
Bevor sie antworten konnte, öffnete sich am Ende des Flurs eine Tür und ein Junge kam heraus. Das musste Jakob sein. Kaum wiederzuerkennen, ohne all die Verbände um seinen Kopf. Seine braunen Haare fielen ihm wellig über die Ohren und obwohl er in Oskars Alter war, ließ die verbissene Miene sein Gesicht älter wirken. Ich war froh, zu sehen, dass seine Wunden verheilt waren. Nur eine rote Narbe zog sich noch über seine Stirn.
„Ilse, sag mal, spinnst du?", fuhr er seine Schwester leise an.
„Ist schon gut. Das ist nur Luise, eine Schulfreundin ..."
„Aber doch nicht jetzt!"
„Ich gehe gleich wieder", versicherte ich ihm.
Jakob funkelte mich an und runzelte die Stirn.
„Kann ich mich bitte kurz mit meiner Freundin unterhalten?", fragte Ilse bestimmt.
Jakob verzog sich, aber ich sah ihm an, dass er es ungern tat.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kehrte wieder unangenehmes Schweigen ein. Verlegen standen wir uns gegenüber und schauten zu Boden. Ich wusste, dass ich als Erstes etwas sagen musste. Schließlich war ich hierhergekommen.
„Ilse, es tut mir so leid, dass ich einfach so gegangen bin", platzte es aus mir heraus. „Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte und ... ich hatte Angst."
„Ich weiß. Ich hätte dich nicht damit belasten sollen. Mir tut es leid."
Nach dieser Entschuldigung fiel mir eine Last von den Schultern. Ilse hasste mich nicht, sie schien mich sogar zu verstehen.
„Wie geht es deiner Mutter?", fragte ich.
„Besser, auch wenn sie noch immer schwach ist."
„Und was ist mit ...?"
Sie wusste natürlich, worauf sich meine Frage bezog. „Sie haben ihn noch nicht geschnappt", flüsterte sie. „Aber es ist hart für ihn. Wir haben kaum genug Essen für uns selbst und können ihm nicht viel geben. Dabei braucht er es, gerade jetzt in der Kälte. Wir haben schon den Großteil unserer Sachen verkauft, aber ohne Marken bekommen wir nicht viel für das Geld. Und sie haben unsere Rationen gekürzt. Eine weitere Repressalie", sagte sie bitter.
„Hast du keine Angst, dass die euch holen könnten, um ihn zu erpressen?", fragte ich.
„Unser Pfarrer hat für uns gebürgt, dass wir nichts von Papas Aufenthaltsort wüssten. Aber du hast recht, die können ihre Meinung jederzeit ändern." Sie beugte sich näher zu mir und ihre Augen zuckten unruhig hin und her, als sie wisperte: „Ich glaube, wir stehen unter Beobachtung. Deshalb habe ich nicht sofort aufgemacht."
Ich erschauderte. Hatte mich etwa auch jemand gesehen, als ich das Haus betreten hatte?
„Keine Angst. Sie wissen ja nicht, zu wem du gegangen bist", sagte Ilse, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Ich verstehe aber auch, wenn du wieder gehen willst."Ich knabberte unschlüssig auf meiner Unterlippe, hin- und hergerissen zwischen meiner Angst und dem Wunsch, etwas für meine Freundin zu tun.
„Kann ich euch irgendwie helfen?", fragte ich.
Ilse überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich denke nicht. Es sei denn, du kannst irgendwo Essen herbeizaubern." In dem Moment sah sie so niedergeschlagen aus, dass es mir die Brust zusammenzog.
Ich muss ihr irgendwie helfen!
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...