Freitag, 9. Februar 1945

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Freitag, 9. Februar 1945

Heute spielte ich auf dem Klavier in der Schule die Träumerei von Schumann. Während ich sonst beim Spielen immer an Vati dachte, ging mir heute ein ganz bestimmter Junge nicht aus dem Kopf. Ich bin ja wirklich nicht auf den Mund gefallen, aber in Antons Nähe fühle ich mich manchmal befangen. Sein Freund Gerhard scheint ein lustiger Typ zu sein. Er lockert immer die Stimmung zwischen uns auf.

Zeitgleich mit meinem Schlussakkord setzte das Heulen der Sirenen ein. Ein beinahe schon gewohntes Geräusch, das mich doch immer wieder zusammenzucken lässt. Ich sprang vom Klavier auf und eilte zum nächsten Fenster, um es aufzureißen, damit bei Detonationen in der Nähe nicht das Glas zerspringen würde. Von draußen drang bereits das Summen der Flugzeugmotoren herein. Hoffentlich ziehen sie über uns hinweg, dachte ich, während ich weiterrannte.

Als ich das nächste Fenster öffnete, krachte es irgendwo. Ich duckte mich instinktiv unter das Fenster und versuchte, meinen rasenden Puls zu beruhigen. Diese ständige Angst, ich hab sie so satt!

Schwestern und Ärzte hasteten an mir vorbei, schoben Betten oder halfen Patienten die Treppe hinunter zum Keller. Draußen donnerte es jetzt wie bei einem Gewitter. Das Bombentrommelfeuer hatte eingesetzt. Der Boden unter meinen Füßen erbebte leicht bei jedem Einschlag. Dabei waren die Flugzeuge nicht mal direkt über uns.

Ich eilte weiter durch den Flur, von Fenster zu Fenster. Da fiel mir auf, dass ganz hinten im Gang die Tür zum Lagerraum offen stand. Normalerweise war sie verschlossen, denn dort wurden die Medikamente aufbewahrt. Auch wir Hilfsschwestern vom BDM durften den Raum nur in Begleitung einer echten Schwester oder eines Arztes betreten. Schwester Ingrid hatte mich einmal dorthin mitgenommen, um gerade gelieferte Medikamente und Verbandszeug einzusortieren.

Ich stockte. Eigentlich wäre es auch für mich höchste Zeit gewesen, hinunter in den Keller zu gehen. Ich blickte mich um. Niemand beachtete mich und es war auch keiner in Richtung des Lagers unterwegs. Kurz entschlossen ging ich darauf zu. Nur, um zu kontrollieren, ob dort noch ein Fenster offen stand, redete ich mir ein.

Der Raum war verlassen. Rasch stieg ich über eine Kiste mit Reagenzgläsern hinweg, um zu dem kleinen Fenster im hinteren Bereich zu gelangen, das tatsächlich noch geschlossen war. Ich schob mich an Regalen voller Flaschen, Dosen und Kisten vorbei, als ich plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Vor mir im Regal befanden sich Glasröhrchen mit Protonsil-Tabletten. Ich erinnerte mich, wie Schwester Ingrid mir erklärt hatte, wofür die verschiedenen Medikamente eingesetzt wurden. Sie war immer sehr nett und nahm sich Zeit für uns. Protonsil, so hatte sie erzählt, wurde bei bakteriellen Infektionen verabreicht.

Mein Herz begann, so laut zu klopfen, dass mir das Blut in den Ohren rauschte und ich die Motoren- und Abwurfgeräusche von draußen kaum noch wahrnahm. Gelegenheit macht Diebe, sagte man ja. Und das hier war die perfekte Gelegenheit. War es wirklich so viel schlimmer als das Eintauschen von illegalen Lebensmittelmarken? Noch während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, griff meine Hand schon nach einem der Röhrchen. Würde das Medikament Herrn Matuzek helfen? Oder war es vielleicht schon zu spät? Nahm ich die Medizin einem Patienten weg, der sie vielleicht dringend benötigte?

„Luise?", ertönte da eine Stimme in meinem Rücken.

Ich erschrak so sehr, dass ich das Röhrchen beinahe fallen gelassen hätte. Jetzt war es zu spät, es zurückzulegen. In Windeseile ließ ich es in meine Schürzentasche fallen und drehte mich um.
An der Tür stand Gertrud. Hatte sie mich beobachtet? Wie lange stand sie schon da? Meine Handflächen schwitzten, aber es wäre zu auffällig gewesen, sie an meiner Schürze abzuwischen. Wenn sie herausfanden, dass etwas fehlte ... Wenn sie mich erwischten ...

„Was machst du denn noch hier?", fragte Gertrud drängend.

Ich holte tief Luft und hoffte, dass meine Stimme nicht zittern würde. „Die Tür stand offen. Ich wollte das Fenster aufmachen."

Rasch trat ich die zwei Schritte zum Fenster hin und öffnete es.

„Dann komm jetzt mit in den Keller!"

Gertrud zog mich am Arm mit nach draußen. Meine Beine fühlten sich an wie weich gekochte Makkaroni. Ich blickte zurück zum Regal, in dem für meine Augen eine riesige Lücke klaffte. Mit einer Hand umklammerte ich das Gläschen in meiner Tasche. Ich bin wirklich zur Verbrecherin geworden. Das hätte ich nie von mir gedacht.

Wenn es Ilses Vater nur hilft, gesund zu werden!

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt