Samstag, 13. Januar 1945
Drei kleine schwarze Notizbüchlein. Das ist alles, was wir von Vati bekommen haben. Und doch ist es der größte Schatz.
Kein Mensch war heute Nachmittag in der Nähe der einsamen Trauerweide im Park. Obwohl ihre Äste jetzt kahl waren, fühlte ich mich dennoch beschützt. Wie damals, als ich mit Vati hergekommen war. Es war ganz windstill. Nicht einmal die dünnen Spitzen der Zweige, die am Boden hingen, rührten sich. Und kalt war es, so kalt, dass jeder Atemhauch weiße Wölkchen in die Winterluft hinausblies. Aber ich spürte es kaum.
Lange betrachtete ich das kleine Buch mit dem abgewetzten schwarzen Ledereinband, das Vati ins Feld begleitet und dem er mit seiner Feder Leben eingehaucht hatte.
„Tagebuch Otto Hofmann, Mai 1941 bis November 1943" stand ganz vorn. Ich blätterte es durch und sah auf den einzelnen Seiten die Gedichte, von denen er erzählt hatte.
Mein Herz klopfte. Das letzte Mal, als ich mit ihm gesprochen hatte, wollte er nicht, dass ich sie lese. Aber auf der zweiten Seite stand, mit Bleistift geschrieben, die Widmung: Für meine kleine Muse.
Mein Hals verengte sich und ich schluckte krampfhaft. Ich konnte nicht anders; ich musste hineinschauen. Wenn er wiederkommt, werde ich mich bei ihm entschuldigen ...
Mit klopfendem Herzen fing ich an, zu lesen.
Das erste Gedicht war vom Frühjahr 1941. Damals war er gerade erst eingezogen worden. Es hieß „Warten".
Irgendwo einsam steht der Soldat
Und wartet.
von fernher dröhnt Kriegslärm,
wo Kameraden kämpfen.
Er darf nicht dabei sein.
Er wartet. –Sehnsucht rauscht in ihm auf,
Er sieht sein Weib, seine Kinder,
Sieht sie in lachendem Sonnenschein spielen
Und hört seiner Heimat Laut.Doch brandet die Sehnsucht nur
Bis an die eherne Mauer der Pflicht,
Die er im Herzen sich aufgestellt.
Und die brechende Brandung
Gibt einen hellen Klang
Und stählt ihm den Mut und die Kraft. –Irgendwo einsam steht der Soldat
Und schaut in die Ferne
Und wartet ...Die unendliche Einsamkeit, die er in diesen Worten zum Ausdruck brachte, traf mich tief ins Herz. Damals, 1941, war ich noch so jung und dumm und hatte von nichts eine Ahnung. Ich wusste nicht, dass er sich so fühlte. Er hat es immer gut verborgen, wenn er nach Hause kam, jedenfalls vor uns Kindern. Bis auf das eine Mal, als ich ihn habe weinen sehen. Vielleicht wollte er unsere naiven Vorstellungen nicht zerstören.
Ein weiteres Gedicht hieß „Heimkehr":
Und wenn wir aus den Schlachten heimwärts kehren,
Wird eng der Mund, doch hell das Auge sein.
In unsern Zügen steht noch das Entbehren,
Doch aus den Augen strahlt der Zukunfthoffnung Schein.Dann stehen unsere Frauen in den Türen,
Und unsere Kinder jubeln vor uns her –
Sie wollen unsere Herzen heimwärts führen,
Die sind von Kampf und Not und Fremde noch so schwer ...Der Text verschwamm vor meinen Augen und ich klappte das Buch kurz zu, schaute in die stille, kahle Umgebung der vertrauten Bäume, die mich umschlossen. Ein Pärchen Kohlmeisen hüpfte unbesorgt von Ast zu Ast. So kleine, zarte Wesen ...
Ich wusste nicht, ob ich weiterlesen konnte. Ich fühlte mich wie von Geistern umgeben, die aus der Vergangenheit mit mir sprachen. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, ihnen nicht zuhören. Andererseits fühlte ich mich Vati beim Lesen so nah. Als würde ich seine Gedanken hören. Gedanken, die er noch nie zuvor mit mir geteilt hatte. Und jetzt verstand ich auch, warum.
Ich öffnete das zweite Buch, datiert von Januar 1944, ohne Enddatum. Die letzten Seiten waren noch leer.
Das erste Gedicht hatte keine Überschrift und kein Datum.
Ich saß am Fenster, als die Nachricht kam,
Und lauschte in die bange, fremde Ferne
Und suchte Dich, suchte und fand Dich nicht ...
Und wußte, als der Schritt im Flur erscholl,
Daß Du nun nimmer wieder kommen wirst ...Nun wandre ich die weiten, weiten Wege
Hin an Dein Grab, und kann es doch nicht sehen,
Kann es nicht glauben, daß Du nicht mehr bist.
Und immer ist es mir, als müßtest Du
Wieder wie einst herein zur Türe treten,
Wie einst die Kinder Dir entgegenjubeln ...Aber Du kommst nicht, und ich bin allein
Und starre tränenlos in grause Leere,
Bis mich der Kinder liebe Stimme weckt.
Dann tröst' ich sie und trete stumm hinaus
Und warte, daß mein Herz Dich wiederfindet ...Mir stockte der Atem und mein Herz pochte wild in meiner Brust. Es war, als hätte er gewusst, was passieren würde. Wie konnte das sein? Konnte er in die Zukunft schauen?
Die Tränen brannten hinter meinen Augen, aber ich wollte ihnen nicht freien Lauf lassen. Das wäre wie ein Eingeständnis, das ich nicht geben will. Mit zitternden Händen ließ ich die Seiten vor meinem Auge dahingleiten, bis zur allerletzten beschriebenen Seite.
Antwort an den Tod
Das ist der rechte Totendienst, wenn wir bei all
Unserem Schmerz uns nicht in diesem verlieren,
Sondern aus ihm, aus dem Wissen um die
Unerbittlichkeit des Todes die Kraft entfalten,
Die Toten tief im Herzen zu tragen, für sie
Mitzuleben, mitzuerleben, mitzukämpfen.
Das wollen, das fordern sie von uns, und
Damit leben sie, aus ihrem Tod will Leben wachsen,
Das ist ihr höchster Wunsch, ist der Sinn ihres
Sterbens und unsere Aufgabe.Lange Zeit herrschte Stille in mir und um mich herum. Meine Gedanken schienen zum Stillstand gekommen zu sein. Die Zeilen wirken, als hätte er sie direkt an mich gerichtet. Sie waren wie der Rettungsring, den man demjenigen hinhält, der schon fast zu ertrinken glaubte. Sie sind ein Angebot. Nein, eine Bitte. Die gleiche Bitte, wie Vati sie mir abgenommen hat, bevor er nach dem letzten Heimaturlaub gegangen ist. Ich muss für ihn stark bleiben. Für meine Familie.
Bis er wieder nach Hause kommt. Falls er wiederkommt ...
DU LIEST GERADE
Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...