Donnerstag, 1. Februar 1945
Heute war ich bei Ilse, um ihr das Essen vorbeizubringen. Schon als sie mir die Tür öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist los?", fragte ich.
Sie blickte mit furchtsamen Augen hinaus in den Hausflur. „Ich darf eigentlich niemanden einlassen", flüsterte sie.
„Oh."
„Aber du bist ja nicht irgendjemand. Komm!"
Sobald sie die Tür hinter mir geschlossen und den Riegel vorgeschoben hatte, zeigte ich ihr den prall gefüllten Korb. Ihre Augen weiteten sich.
„Für uns?", stammelte sie.
„Ja, und ... für deinen Vater."
„Aber ... aber ..." Sie stand unschlüssig da und wollte den Korb nicht annehmen. Tränen traten in ihre Augen.
„Was ist los?", fragte ich bestürzt.
Ilse biss sich auf die Unterlippe und es sah so aus, als würde sie kurz mit sich kämpfen. Schließlich nahm sie den Korb unter den Arm und sagte leise: „Komm mit."
Sie führte mich zu dem Zimmer gegenüber der Küche, in dem bei meinem ersten Besuch ihr Bruder verletzt auf der Matratze gelegen hatte. Ich fürchtete sofort, dass wieder etwas in der Art passiert war. Sie drückte leise die Klinke herunter und ließ mich eintreten.
Die Verdunkelungsrollos waren tief herabgezogen und sperrten das Tageslicht aus. Nur der gelbliche Schein einer Kerze erhellte das Zimmer. Es war jetzt aufgeräumt. Nur das zerbrochene Bettgestell lehnte noch immer an einer Wand. Auf einer Matratze am Boden hockte ein Mann in schmutziger, zerrissener Kleidung. Er löffelte gerade aus einem Suppentopf. Als er mich sah, hielt seine Hand mitten in der Bewegung inne. Mir fielen sofort seine hohlen, unrasierten Wangen und dunklen Augen auf, die tief in den Höhlen lagen.
Neben ihm saßen Jakob und Ilses Mutter. Jakob sprang auf und stellte sich breitbeinig und mit verschränkten Armen vor den Mann.
„Es ist in Ordnung", sagte Ilse beruhigend zu ihrem Bruder. „Wir können Luise vertrauen. Sie hat uns das hier mitgebracht."
Sie brachte den Korb zu ihren Eltern, während ich verlegen am anderen Ende des Raumes stand und nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Der Anblick von Ilses Vater in diesem Zustand schockierte mich. Die tiefen Ringe unter seinen Augen ließen ihn aussehen wie einen Geist. Doch trotz seiner abgerissenen Erscheinung machte er nicht den Eindruck einer „minderwertigen" Rasse. Seine scharfen Augen wirkten so intelligent wie die von Ilse.
„Du kennst also unser Geheimnis?", fragte er mit heiserer Flüsterstimme.
„Ich habe es niemandem verraten", versicherte ich ihm.
Er wollte noch etwas sagen, doch da überfiel ihn ein Hustenanfall. Jakob war sofort an seiner Seite und stützte ihn, bis der Anfall vorüber war. Dann half er ihm dabei, sich wieder hinzulegen.
„Aber Luise!", rief Frau Matuzek, die inzwischen den Korb inspiziert hatte. „Wo hast du das nur aufgetrieben? Das können wir doch nicht annehmen!"„Ist schon in Ordnung. Mein Onkel besitzt ein Lebensmittelgeschäft. Der hat mir ausgeholfen. Es war wirklich kein Problem."
Ich wusste nicht, ob sie mir glaubte, aber Ilse sagte rasch: „Danke, Luise! Das wird Papa bestimmt dabei helfen, wieder auf die Beine zu kommen."
„Was fehlt ihm denn?", fragte ich.
„Er hustet immerfort, schon seit Tagen, und die Brust tut ihm weh. Es ist sehr kalt in seinem Versteck und er hat ja kaum etwas zu Essen. Wir haben schon den Großteil unserer Sachen verkauft, aber ohne Marken bekommen wir nicht viel für das Geld. Und sie haben unsere Rationen gekürzt. Eine weitere Repressalie."
Ich schluckte. „Gibt es keinen Arzt, dem ihr vertrauen könnt?"
Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
„Eigentlich dürfte er nicht einmal hier sein. Er hat Angst, dass sein Husten die Nachbarn alarmiert. Außerdem könnten sie jederzeit zu einer unangekündigten Durchsuchung erscheinen."
Ich erschauderte. Wieder einmal wurde mir die Gefahr deutlich bewusst, in der auch ich mich befand. Doch ich dachte wieder an meinen Vati und seinen Mut angesichts der Ungerechtigkeit, die er mitangesehen hatte.
Fieberhaft überlegte ich, wie ich Ilse und ihren Vater noch helfen könnte. Das Essen würde ihm sicher guttun, aber wenn er ernsthaft krank war, nützte das auch nichts. Er brauchte Medizin. Aber an die würde ich nicht so einfach kommen. Oder?
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...