Mittwoch, 3. Januar 1945

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Mittwoch, 3. Januar 1945

Nach den Weihnachtsferien blieb die Schule geschlossen, jedenfalls für den Unterricht. Aber nicht etwa, weil sie einem Bombentreffer zum Opfer gefallen wäre. Sie wurde zum Reservelazarett umfunktioniert, in das die Soldaten verlegt werden, die schon wieder über den Berg sind, aber noch eine Weile für die Genesung benötigen. Und als hätten wir es geahnt, wurden wir älteren BDM-Mädels als Hilfskrankenschwestern herangezogen. Ich hoffe, dass die Arbeit mich von meinen Sorgen um Vati ablenken kann.

Als wir heute zum ersten Mal in der Schule zum Dienst erschienen, war niemand da, um uns einzuweisen. Wir standen vollkommen verloren in der Eingangshalle und beobachteten die vorbei eilenden Schwestern. Doch keine hatte Zeit oder wusste etwas davon, dass wir heute anfangen sollten.

Es war ein seltsames Gefühl, die vertrauten Räume auf einmal in so ganz anderer Funktion zu sehen. Die gesamte Atmosphäre hatte sich verändert. In den Klassenzimmern, in denen vor wenigen Wochen noch Lehrerpult, Stühle und Tische gestanden hatten, waren jetzt metallene Feldbetten mit dünnen Matratzen aneinandergereiht. Und statt Lehrern und Schülern liefen Ärzte und Krankenschwestern in weißen Kitteln durch die Gänge. Das Sekretariat war zum OP-Saal umfunktioniert worden. Es roch nach Desinfektions- und Putzmitteln.

Irgendwann erwischte ich im Gang eine ältere Schwester, die uns mit wenigen Worten ein paar Anweisungen gab. Wir sollten die Räume säubern, in der Küche aushelfen und uns mit den Patienten unterhalten oder kleine Dienste für diese versehen, wenn sie es wünschten.

Gertrud teilte uns ein. Ich bekam den Putzdienst zugewiesen. Auch wenn ich Putzen hasse und Mutti meint, mit Besen und Scheuerlappen könne man mich jagen, war es mir dennoch lieber, als in der Küche zu stehen, denn so konnte ich wenigstens mit den Patienten in Kontakt kommen.


Zusammen mit Hanni machte ich mich auf die Suche nach den Putzutensilien. Sie waren in der kleinen Besenkammer untergebracht, die auch unser Hausmeister immer genutzt hatte. Ich reichte Hanni Besen, Scheuerbesen und Eimer heraus und nahm mir selbst das Gleiche.

Hanni blickte betrübt an ihrer sauberen, geplätteten Uniform herunter. „Wenn ich das gewusst hätte, hätt' ich mir eine Schürze mitgenommen."

„Wir könnten eine der Schwestern nach ihren Kitteln fragen", schlug ich vor.

Eine junge Schwester namens Ingrid war so freundlich, uns das Schwesternzimmer zu zeigen. „Hier könnt ihr euch jeden Tag einen Kittel ausleihen. Am Ende der Woche kommen sie in den Wäschesack dort."

In der weißen Kittelschürze fühlte ich mich gleich ganz anders. Fehlte nur noch das Häubchen.
Mit dem Putzzeug bewaffnet zogen wir los. Ich übernahm das Erdgeschoss, während Hanni in der obersten Etage anfing. Ein etwas beklemmendes Gefühl war es schon, als ich die Tür zu einem der Krankensäle öffnete - ehemals der Klassenraum der Untersekunda. Außer der Tafel an der Wand erinnerte nicht mehr viel an die frühere schulische Nutzung. Zwölf Krankenliegen in zwei Reihen standen hier, alle voll belegt. Einige Männer schauten in meine Richtung, als ich den Raum betrat, andere schliefen oder hatten zumindest die Augen geschlossen. Einer hing an einem Tropf. Dem Mann direkt neben der Tür fehlten beide Beine. Ich erkannte es daran, dass die dünne Bettdecke knapp unterhalb seiner Knie auf einmal flach wurde.

Ich bemühte mich, souverän zu wirken, und grüßte höflich. „Hallo, ich bin Luise. Wir sind vom BDM und helfen hier aus."

„Die BDM-Mädels sind hier", rief ein junger Mann von hinten am Fenster und winkte mir mit einem Arm zu. Sein anderer Ärmel hing lose herunter. Er hatte ein verschmitztes Gesicht mit leicht abstehenden Ohren.

Einige der Männer lachten. Ich wusste nicht, ob ich vor Verlegenheit im Boden versinken oder auf seinen Scherz eingehen sollte. Schließlich entschied ich mich für Letzteres.

„Ganz genau, und sie werden hier einmal ordentlich reinemachen."

„Wo sind denn die anderen Mädchen?", fragte ein Mann.

„Sie müssen wohl mit mir vorliebnehmen."

Ich tat so, als wäre ich ganz ins Kehren vertieft, während die Männer weiter herumflaxten.
„Kannst du nicht auch mal bei mir reinemachen?", fragte der junge Soldat am Fenster frech.
Die Männer lachten wieder und ich wurde rot.

Entschlossen lehnte ich den Besen an die Wand und stützte die Arme in die Hüften. „Möchten Sie vielleicht selber putzen? Wie heißen Sie?", fragte ich den Soldaten, der mich so dumm angesprochen hatte. „Damit ich dem Oberarzt melden kann, wer hier einen einmal ordentlichen Einlauf braucht."

Er blickte mich einen Moment lang schweigend an. Dann schlich sich ein jungenhaftes Grinsen auf sein Gesicht. Er streckte seinen gesunden Arm aus. „Du kannst Martin zu mir sagen."

Er konnte nicht älter als achtzehn oder neunzehn sein und hatte schon einen Arm verloren. Ob seine Fröhlichkeit nur aufgesetzt war? Oder hatte er sich bereits mit dem Verlust abgefunden? Ich wusste, dass diese Männer schon Wochen oder Monate in einem Lazarett verbracht hatten und alle auf dem Weg der Besserung waren - als wenn man sich von einer verlorenen Gliedmaße erholen könnte ... Ich ergriff seine Hand und lächelte versöhnlich.

Auf einmal wollten sich alle anderen auch vorstellen und schüttelten mir die Hand. Nur der Mann, der am Tropf hing, rührte sich nicht. Als ich beim Kehren in seine Nähe kam, hätte ich beinahe den Besen fallen gelassen. Mein erster Impuls war es, entsetzt zurückzuweichen. Ich konnte nicht sagen, ob er jung oder alt war. Sein Gesicht war vollkommen von Brandnarben bedeckt, die sich bis zum Hals herunterzogen und vermutlich über den ganzen Körper gingen. Doch seine braunen Augen, von wimpernlosen Lidern umrahmt, waren geöffnet. Ihr lebendiger Schein war das einzige Zeichen, dass in diesem entstellten Körper noch ein wacher Geist wohnte.

„Guten Tag", stammelte ich beschämt und hoffte, dass er mein Erschrecken nicht bemerkt hatte.
Der Mann öffnete den Mund, aber es drang nur ein unverständliches raues Flüstern hervor. Er wandte den Kopf ab, als wäre es ihm peinlich.

„Er kann nicht mehr sprechen", sagte Martin leise vom Bett nebenan. „Kehlkopf verbrannt."

„Oh." Ich schluckte. Mein Blick fiel auf seinen Wehrpass, der auf dem Nachttisch lag. Das Foto darauf zeigte einen Mann mit gelockten Haaren, der nicht im Entferntesten dem Menschen glich, der daneben im Bett lag. Darunter stand der Name: Joachim Stettlein.

Während ich weiterputzte, plauderte Martin fröhlich mit mir. Ich erfuhr, dass er gerade zwanzig geworden war und direkt bei seinem ersten Einsatz verwundet wurde.

„Nun hab ich halt die Heimkarte gezogen", sagte er so unbekümmert, als wäre es tatsächlich nur ein gezogenes Los und nicht etwas, für das er seinen linken Arm einbüßen musste. Oder - wie Herr Schmidt - sein Augenlicht. Aber wenn ich so darüber nachdenke, würde ich mich auch freuen, wenn Vati mit nur einem Arm zurückkehren würde ... wenigstens wäre er dann in Sicherheit.

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt