Montag, 15. Januar 1945

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Montag, 15. Januar 1945

Eine Woche ist es jetzt her, dass wir die Nachricht erhalten haben. Meine ganze Welt hat sich seitdem verändert. Am Tag gehe ich zwar meinen Pflichten nach, aber ich fühle mich dabei wie ein Automat, der ohne eigenen Willen seine Aufgaben verrichtet. Und nachts plagen mich die Gedanken, sodass ich nicht einschlafen kann.

Gerda ist jetzt bei Omi und Opi in Markranstädt untergekommen. Dort ist sie sicherer vor den Bomben, hat Opa gesagt. Aber ich glaube, sie wollten vor allem Mutti etwas entlasten. Auch Oskar sollte mitgehen, doch er hat sich gesträubt.

Der Dienst im Lazarett ist eine immerhin eine Ablenkung - er gibt mir etwas zu tun. Alle neuen Lazarettinsassen frage ich jetzt, woher sie kommen und ob sie vielleicht etwas von Otto Hofmann gehört haben. Es ist nicht auszuschließen, dass einer von ihnen in derselben Division gekämpft hat wie Vati, ihn vielleicht sogar gekannt hat und etwas über seinen Verbleib weiß. Ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Wie immer drehte ich heute meine Runde durch die Zimmer, mit Besen und Wischlappen bewaffnet, und sagte allen Patienten Hallo. Es kommen und gehen immer wieder Männer, aber einige sind mir schon recht gut bekannt. Mein persönliches Sorgenkind ist Joachim Stettlein mit dem verbrannten Kehlkopf. Es geht ihm langsam wieder besser. Er kann sich schon halb aufsetzen, an mehrere dicke Kissen gelehnt, die ich hinter seinen Rücken stopfe. Seine wachen Augen verfolgen mich, wenn ich im Zimmer umherwusele und meine Arbeit erledige.
Ich würde gern mit ihm reden können. Ich habe nämlich erfahren, dass er früher einmal Sänger war. Leider wird er wohl nach seiner schweren Verletzung diesen Beruf nicht wieder aufnehmen können.

Heute kam mir beim Putzen eine Idee. Ich lief zum Schwesternzimmer, wo ich meine Tasche aufbewahrte, und holte ein Notizheft und einen Bleistift heraus. Zurück im Erdkundezimmer hielt ich die beiden Dinge Joachim hin.

„Können Sie schreiben?", fragte ich mit Blick auf seine noch verbundenen Hände.

Seine Augen hellten sich auf. Er nickte und ich legte ihm den Block auf den Schoß und drückte ihm den Stift in die rechte Hand. Es war etwas schwierig für ihn, den Stift zu halten, und er brauchte einige Anläufe, ehe er ihn im richtigen Winkel und mit der nötigen Kraft aufs Papier setzen konnte. Aber dann schrieb er in großen, ungelenken Buchstaben.

DANKE.

„Sehr gern. Sie können ihn behalten", sagte ich mit einem Kopfnicken auf den Block.

Du kannst mich Joachim nennen, brachte er als Nächstes aufs Papier und schien dabei immer flüssiger zu werden.

Ich lächelte ihn an.

Jemand zog mich von hinten leicht am Zopf. Das konnte nur einer sein! Ich drehte mich um. Martin mal wieder! Das machte er oft. Natürlich nur aus Spaß, und ich tat auch nur so, als würde es wehtun.

„Du bist schlimmer als mein kleiner Bruder!", schalt ich ihn. Er hatte mir vor einer Woche das Du angeboten. Ich schätze, es fällt mir leicht, ihn so anzusprechen, weil er noch so jung wirkt.

Martin schien dieser Vergleich nicht zu gefallen. „Na hör mal, ich bin doch nicht dein Bruder!"

„Du benimmst dich aber so", gab ich zurück.

Martin runzelte die Stirn. „Was macht ihr denn da? Geheimnisse austauschen?", fragte er mit einem schiefen Blick auf den Schreibblock von Joachim.

„Ach wo. So können wir uns endlich unterhalten."

„Prima Idee. Bist ein schlaues Mädel."

Ich drehte mich wieder zu Joachim und fragte: „Wo hast du denn gesungen?"

An vielen Orten. Im Gewandhaus Leipzig bin ich auch schon aufgetreten.

Ich erzählte ihm, dass ich Musik liebe und schon ein paar Mal in der Leipziger Oper und im Gewandhaus war. Dabei dachte ich mit einem schmerzhaften Stich an Vati, der mich immer dorthin mitgenommen hatte.

„Du bist doch auch eine kleine Sängerin, nicht wahr, Luise?", mischte sich Martin schon wieder ein.

„Was?"

„Ich hab schon oft gehört, wie du beim Wischen vor dich hinsingst. Hast eine hübsche Stimme."

Ich wurde rot.

„Du könntest uns ja mal was vorsingen", schlug er mit einem schelmischen Grinsen vor.

Einige andere murmelten zustimmend und auch Joachim nickte erfreut.

„Ich? Nein ..." Die ganze Aufmerksamkeit machte mich verlegen. „Ich spiele lieber Klavier."

„Das Klavier steht draußen im Flur. Wenn du die Tür auflässt, hören wir's", meinte Martin.

„Ich bin hier, um zu arbeiten." Ich bückte mich, um den Wischlappen im Wasser auszuwringen und wieder um den Scheuerbesen zu wickeln.

„Aber auch, um uns zu unterhalten, oder nicht?", beharrte Martin.

Ich ignorierte ihn und fuhr mit dem Scheuerbesen schwungvoll unter die Betten. Seit der Vermisstmeldung hatte ich meinen Flügel nicht mehr angerührt. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, zu spielen - aber wie sollte ich das Martin und den anderen erklären?

Doch dann sah ich in Joachims erwartungsvolles Gesicht. Hätte Vati nicht gewollt, dass ich diese Menschen mit meiner Musik aufmuntere?

Ich lehnte den Besen an die Wand. „Ich muss erst fragen, ob es in Ordnung geht", sagte ich zögerlich.

„Klar geht es", erwiderte Martin sofort. „Und wenn dich irgendjemand deswegen anpflaumt, kriegt er's mit uns zu tun ..."

„Ja, genau", kam es auch von den anderen.

Ich lächelte. Dann trat ich hinaus in den Flur und ließ die Tür offen. Das Klavier aus dem Musikzimmer stand an der Wand. Man hatte es rausgeschoben, um Platz im Raum zu schaffen, aber offenbar noch keinen anderen Ort dafür gefunden. Es war ein altes Ding und der Scheiber hatte es mit seinem Geklimper ganz schön misshandelt. Aber wenigstens war es nicht verstimmt.

Ich schlug die Klaviersonate von Mozart an, die ich auch Anton im Sommer vorgespielt hatte. Die ersten Töne klangen noch etwas abgehackt in meinen Ohren, doch dann fand ich mich ein und ließ die Musik fließen. Es tat gut, etwas Fröhliches zu spielen.

Einige Schwestern und Ärzte liefen an mir vorbei, aber niemand störte mich. In den anderen Räumen baten die Patienten nun, ebenfalls ihre Türen öffnen zu dürfen. Die Musik im Haus der Verwundeten schien alle aufzumuntern - sogar mich. Offenbar konnte ich doch etwas tun, um zu helfen, und sei es auch noch so klein.

Anschließend schlug ich Beethovens Mondscheinsonate an und ließ mich in die verträumte Melodie hineinfallen. Plötzlich überwältigte mich die Erinnerung an Vati mit voller Wucht. Würde er mir jemals wieder zuhören können? Ich musste es glauben, ich durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Ich dachte an Ilse, die sich ebenfalls um ihren Vater sorgte - genau wie ich. Was hätte Vati getan, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, ihm von ihrer Situation zu erzählen?

Seit seinem letzten Brief glaubte ich, die Antwort zu kennen. Er hat nicht tatenlos daneben gestanden und zugesehen, als vor seinen Augen etwas Unrechtes passierte. Und dafür hat er vielleicht den Preis müssen ... Aber er war mutig und das will ich auch sein.

Als das Stück vorbei war, wusste ich, was ich tun musste. Ich würde morgen Abend bei Ilse vorbeigehen. Das hätte ich schon viel eher machen sollen. Viel, viel eher! Ich weiß, dass es gefährlich ist. Ich bin jetzt schon Mitwisserin und wenn ich hingehe und helfe, dann mache ich mich wirklich mitschuldig. Aber wenn ich nichts tue, bin ich dann nicht genauso schuldig wie diese Leute, die ihr das angetan haben?

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt