Freitag, 28. Dezember 1945
Anton ist wieder da! Ich bin so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Wenn das mein Weihnachtsgeschenk ist, dann weiß ich nicht, wie ich es verdient habe.
Er stand heute Nachmittag vor der Tür, völlig unerwartet. Erst traute ich meinen Augen kaum. Am liebsten wäre ich ihm gleich um den Hals gefallen, aber er kam mir so verändert vor, fast wie ein Fremder. Als wir gemeinsam spazieren gingen, kam unser Gespräch langsam wieder in Gang.
Sein Freund Gerhard ist nicht wiedergekommen. Meine Brust schmerzt bei dem Gedanken an diesen weiteren sinnlosen Tod ... so kurz vorm Ende. Ich kann mir wirklich kaum vorstellen, was die beiden in diesen letzten Kriegsmonaten noch durchmachen mussten. Aber Anton hat überlebt, und er ist wieder da.
Als es Zeit war, umzukehren, liefen wir direkt einer Horde russischer Soldaten in die Arme, die ein paar Mädchen belästigten. Anton lenkte sie ab, damit die Mädchen wegrennen konnten, aber dann musste er selbst die Beine in die Hand nehmen. Ich stand in einer versteckten Gasse und lauschte mit klopfendem Herzen auf die sich entfernenden Schritte der Soldaten, die ihm hinterherrannten. In dem Moment hatte ich solche Angst, ihn wieder zu verlieren, dass ich wusste, ich würde ihn nicht noch einmal gehen lassen, ohne ihm endlich zu zeigen, was er mir bedeutete.
Und so stand ich im Schnee und wartete und lauschte, bis er endlich wiederkam, etwas außer Atem, aber unversehrt. Ich glaube, er war überrascht, dass ich auf ihn gewartet hatte. Wir blickten uns einen endlosen Moment lang in die Augen.
Und dann ... küsste er mich. Oder ich küsste ihn. Ich weiß es nicht mehr genau. Vielleicht hatten wir beide die gleiche Idee zur selben Zeit. Und es war so ganz anders als der Kuss mit Martin, den ich nicht gewollt hatte. Es fühlte sich genau richtig an.
Trotz der Kälte war mir warm, als wir danach schweigend Hand in Hand nach Hause liefen.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...