Ohne Titel Teil5

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Freitag, 8. September 1944

Endlich hat Vati Heimaturlaub bekommen!

Gerda flog ihm um den Hals, bevor er auch nur einen Schritt in den Flur machen konnte. Sie war ganz aus dem Häuschen, wie wir alle.

Ich betrachtete ihn, während er Gerda mit einem Arm umfing und fest an sich drückte. Wie schick er aussah in seiner Offiziersuniform mit den schwarzen kniehohen Stiefeln und der grauen, figurbetonten Jacke, die Offiziersmütze mit dem Reichsadler auf dem blonden Haar. Das Ebenbild eines deutschen Helden! Das Einzige, was störte, war die Krücke, auf die er sich stützte.

Fast ein halbes Jahr hat Vati im Lazarett gelegen, weil sich Granatsplitter in seine Beine und den linken Arm gebohrt hatten. Glücklicherweise sind die Wunden fast verheilt. Einmal durfte Mutti ihn dort besuchen, aber ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen. Schrecklich lange Monate.

Nachdem er auch Oskar und Mutti begrüßt hatte, wandte er sich mir zu. „Meine kleine Muse", sagte er und zog mich in den Arm. Ich presste mein Gesicht an seine Brust und spürte den rauen Uniformstoff, der von der Zugfahrt noch leicht nach Rauch roch. Es war so gut, ihn wieder bei uns zu haben. Beinahe hätte ich geweint, aber ich hielt die Tränen zurück. Vati sollte in seinem Urlaub nur fröhliche Gesichter vor sich sehen.

Vati ließ seinen Blick über uns schweifen. „Was hab ich euch alle vermisst", sagte er.

Ich hakte mich bei ihm unter und führte ihn in die Stube, wo er sich in den Sessel vor dem Erkerfenster setzte, seinen Lieblingsplatz. Er schaute sich um. Der ganze Raum glänzte wie sonst nur zu Festtagen. Wir hatten am Tag davor die Fenster geputzt, den Boden geschrubbt und Staub gewischt. Der Flügel war poliert und sogar die Primeln und Begonien blühten in ihren Töpfen um die Wette. Wir alle haben unseren Teil dazu beigetragen, die Wohnung in einen tadellosen Zustand zu bringen.

„Wunderbar ist es, wieder zu Hause zu sein", sagte Vati. „Du hast dich aber fein gemacht!" Er gab Gerda einen Nasenstüber, die in ihrem rosa Seidenkleidchen mit den blonden Rattenschwänzchen wirklich zuckersüß aussah.

Wir hatten uns alle in Schale geschmissen. Sogar Oskar hatte ohne Murren seinen Sonntagsanzug angezogen. Ich wechselte einen Blick mit Mutti.

„Wir haben da was für dich vorbereitet, Vati", sagte ich auf ihr Nicken hin.

Ich versuchte, meine hibbelige Aufregung im Zaum zu halten, während ich mich an den Flügel setzte.

„Ein kleines Ständchen", erklärte Mutti und gab Gerda unauffällig einen Wink.

Sie grinste und verschwand in der Küche. Als sie wiederkam, begann ich zu spielen. Wir sangen alle gemeinsam: „Wir ha'm für dich nen Blumentopf, nen Blumentopf bestellt" von den Comedian Harmonists. Beim letzten Refrain trat Gerda – von Mutti sanft dazu aufgefordert – vor und überreichte Vati etwas schüchtern einen Topf mit kleinen blauen Vergissmeinnicht, den sie hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte. Vati hatte Tränen in den Augen, während er ausgelassen klatschte und Bravo rief. Ich war so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Anschließend hockten wir um Vatis Sessel herum, Gerda auf seinem Knie, und erzählten uns alle Neuigkeiten, während Vati eine Tasse Muckefuck schlürfte. Echten Kaffee gibt es ja schon lange nicht mehr.


„Vati, erzähl, was hast du erlebt?!", bestürmte Oskar ihn. „Hast du viele Feinde abgeschossen?"

Über Vatis Gesicht flog ein Schatten.

„Oskar!", sagte Mutti warnend.

Aber Oskar ließ sich nicht beirren. Mit dreizehn träumt er wie alle Jungs davon, Kampfflieger oder Panzerjäger zu werden. „Hast du dein Pferd noch? Wenn ich Offizier bin, will ich auch ein Pferd haben."

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt