Freitag, 20. April 1945

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Freitag, 20. April 1945

So vieles ist in den letzten Tagen vorgefallen, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll. Vielleicht damit: Leipzig ist befreit! Die Amis sind da. Am Mittwoch sind sie einmarschiert und gestern hat die Stadt kapituliert, nach vielen letzten verzweifelten Straßenkämpfen.

Wenn das nicht passiert wäre, weiß ich nicht, ob ich jetzt hier sitzen und diese Zeilen schreiben könnte. Nie hätte ich gedacht, dass ich nach dem Einsturz unseres Hauses direkt über unseren Köpfen noch einmal so große Angst empfinden könnte. Ich erinnere mich noch immer an alle Einzelheiten, auch wenn ich sie gern aus meinem Gedächtnis streichen würde.

Es fing damit an, dass ich am Montag noch einmal zu Ilse gefahren bin. Es war dieser letzte Besuch, der mich beinahe um Kopf und Kragen gebracht hätte.

Es dämmerte schon, als ich ihre Straße erreichte. Ich blickte mich vorsichtig um, bevor ich das Haus betrat, denn ich wollte nicht wieder Erika begegnen. Beim Hinaufsteigen versuchte ich mir vorzustellen, wie Ilse auf die Nachricht reagieren würde, dass wir ausgebombt wurden. Ich musste ihr auch mitteilen, dass ich nun wahrscheinlich nicht mehr so oft hierherkommen konnte.

Vor der Wohnungstür der Matuzeks zögerte ich. Etwas stimmte nicht. Die Tür stand einen Spalt breit offen und Kratzspuren waren am Türschloss zu sehen, als hätte sie jemand gewaltsam aufgebrochen. Im Nachhinein hätte ich da sofort umkehren sollen. Aber ich musste wissen, was mit Ilse passiert war. Mit pochendem Herzen drückte ich die Tür auf. Sie quietschte ein bisschen in ihren Angeln, doch sonst war kein Geräusch zu hören. Der Wohnungsflur war dunkel. In dem schmalen Lichtstreifen, der vom Treppenhaus durch den Türspalt fiel, ragte meine eigene Silhouette lang und unheimlich auf.

Als es immer noch still blieb, trat ich etwas weiter in die Diele hinein. Mit vorsichtigen Schritten, als würde ich auf der Eisfläche eines Sees laufen, die jeden Augenblick brechen könnte, schob ich mich vorwärts. Ich warf einen Blick in das erste Zimmer rechter Hand. Das Schlafzimmer. Wüst sah es aus. Die Matratze aus dem Doppelbett war aufgeschlitzt, Federn lagen überall herum. Es erinnerte mich an das erste Mal, als ich Ilse besucht hatte – nachdem ihr Vater geflohen war. Hatte die Gestapo wieder jemanden hierhergeschickt? Was hatten sie mit Ilse gemacht? Und Jakob und ihrer Mutter?

Ich sollte nicht hier sein, das spürte ich ganz deutlich. Schauer liefen mir über die Arme. Rasch ging ich von Zimmer zu Zimmer und fand überall ähnliche Hinweise auf Zerstörung, aber keine Spur von Menschen. Als wäre hier irgendetwas Furchtbares geschehen.

Der leere Flur gähnte mir entgegen. Ich musste diese ausgestorbene Geisterwohnung verlassen, bevor mich jemand sah. Keine Minute länger konnte ich diese Stille aushalten.

Doch gerade als ich zur Wohnungstür zurückgehen wollte, wurde sie von außen aufgestoßen. Mir blieb fast das Herz stehen. Eine große Gestalt baute sich im Türrahmen auf, ein Mann mit Hut und langem Mantel.

Einen Augenblick lang war ich wie erstarrt. Wir standen uns gegenüber und keiner sagte etwas. Obwohl ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, glaubte ich zu spüren, wie seine Augen mich durchbohrten.

„Was hast du hier zu suchen?", fragte er mit schnarrender Stimme.

Ich wusste, dass ich nicht in Panik ausbrechen, mir meine Angst nicht anmerken lassen durfte. Trotzdem zitterte meine Stimme, als ich antwortete: „Ich habe nur gesehen, dass die Tür offen stand, und wollte nach dem Rechten sehen."

„Bist du eine Nachbarin?"

„Eine ... Freundin."

Der Mann trat ein paar Schritte in den dunklen Flur hinein, sodass ich ihn besser erkennen konnte.

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt