Freitag, 22. September 1944
Ich kann kaum glauben, dass die zwei Wochen schon um sind. Morgen muss Vati uns wieder verlassen. Ein Stein liegt in meinem Magen, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
„Machen wir einen Spaziergang?", fragte Vati mich heute Abend.Ich warf einen Blick in den Himmel. Bald würde es Zeit sein, die Fenster zu verdunkeln, aber noch hatten wir ein wenig Licht. Ich hakte mich bei ihm unter und wir zogen los, lauschten der Stille, die sich abends über die Straßen legte, wenn keine Sirenen heulten oder Flugzeugmotoren brummten. Nur eine Gruppe von Spatzen lärmte im Gebüsch. Sie verstummten schlagartig, als wir vorbeigingen, und fingen danach genauso lautstark wieder an zu tschilpen.
Vati humpelte immer noch ein wenig, trotz seiner Krücke. In stillem Einvernehmen schlugen wir den Weg zum Park ein und bogen gegenüber dem Spielplatz in den kleinen, fast hinter einem Holunderbusch versteckten Trampelpfad ein. Vor unserem Geheimplatz, der alten Trauerweide, blieb Vati stehen. Er hielt mir die herabhängenden grünen Äste auf, wie er es früher gemacht hatte. Ich schlüpfte hindurch in die einladende Höhle und er folgte mir.
„Kommst du immer noch ab und zu hierher und lauschst den Vögeln und deinen eigenen Träumen?", fragte er, nachdem wir auf der dicken, wie eine Schlange aus dem Boden ragenden Wurzel Platz genommen hatten.
Durch die grünen Vorhänge fiel das letzte Licht des Tages und warf lange Schatten auf den Erdboden. Direkt über uns stimmte ein Amselmännchen sein Lied an. Eine süße, lockende Melodie, die in der Abendstille widerhallte.
„Wann immer ich kann", sagte ich. „Und immer wenn ich hier bin, denke ich an dich."
Als Vati mir diesen Ort zum ersten Mal gezeigt hatte, sagte er: Hierher kannst du kommen, wenn du Zeit für dich allein brauchst. Wenn du hier sitzt und die Stille um dich herum spürt, dich wirklich darauf einlässt, dann kannst du hier vielleicht wundersame Dinge erleben.
Inzwischen ist die alte Weide eine Freundin für mich geworden, der ich mich ohne Worte anvertrauen kann - so komisch das klingt. Von ihren Ästen fühle ich mich geborgen und beschützt.
„Hast du das kleine Büchlein schon benutzt, das ich dir geschenkt habe?", fragte ich.
Er nickte. „Ich schreibe oft meine Gedanken darin nieder, sogar hin und wieder einige Verse."
„Darf ich sie lesen?"
Er schaute in die Ferne. Jetzt im Dämmerlicht fiel mir auf, dass sich die Falten tiefer in seine Stirn gegraben hatten. Dabei war er doch noch so jung.
„Lieber nicht", sagte er schließlich.
Ich schluckte meine Enttäuschung herunter und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Früher hatte er mir immer seine Gedichte vorgelesen.
Er legte einen Arm um meine Schulter und zog mich enger an sich, als hätte er meine Stimmung gespürt. „Es sind keine fröhlichen Gedichte. Sie handeln vom Krieg."
„Ich dachte, ich bin deine kleine Muse."
Er seufzte. „Das bist du auch. Du und deine Geschwister und deine Mutter ... Ihr alle seid das, was mich aufrechterhält - jeden Tag, in dem ich der Heimat fern bin."
„Ich ... ich habe gehört, wie du mit Herrn Schmidt geredet hast", platzte es aus mir heraus. Schon seit Tagen kämpfte ich mit mir, ob ich ihm davon erzählen sollte.
Er sah mich erschrocken an.
„Du hast gesagt, dass du ... nicht mehr an unseren Sieg glaubst", flüsterte ich und blickte mich um. Wir waren ungestört, aber ich hatte nicht die „Feind hört mit"-Plakate überall an den Häuserecken vergessen.
„Ich werde nichts sagen", versprach ich schnell, bevor er antworten konnte. Auch nicht zu Gertrud. Ich weiß ja, dass so eine Aussage von manchen schon als Vaterlandsverrat angesehen wird. Aber mein Vati ist kein Verräter!
Vati nickte. „Du bist ein verständiges Mädchen." Dann sagte er lange nichts mehr.
„Ich habe Angst, Vati", flüsterte ich nach einer Weile.
Vati drückte meine Schulter. „Das haben wir alle. Es ist leicht, zu kämpfen, wenn man sich des Sieges gewiss ist. Es aber auch zu tun, wenn man diese Gewissheit nicht hat, das ist die Pflicht, die wir für unser Volk, für unsere Lieben, auf uns nehmen müssen ... Ich mache mir viel mehr Sorgen um euch, wenn ich wieder fort muss. Aber ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, meine Große. Versprichst du mir, gut auf Mutti und deine jüngeren Geschwister aufzupassen? Ich traue dir zu, dass du hier alles unter Kontrolle behältst. Und wenn nötig, hilft dir Oskar. Wenn ihr ausgebombt werden solltet, was Gott verhüte, dann geht zur Omi nach Markranstädt. Dort ist ja noch der Opi, der euch beschützen kann, falls mir etwas zustößt."
Ich riss entsetzt die Augen auf.Vatis Miene war ernst. „Ich will dich nicht erschrecken. Ich möchte nur, dass ihr auf alles vorbereitet seid."
Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Der Himmel im Westen leuchtete feuerrot, als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand. Ich wünschte, ich könnte sie aufhalten, damit dieser Tag niemals endete.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...