Mittwoch, 6. Dezember 1944
In unserem BDM-Heim ist es zur Zeit mollig warm. Viele Mädchen kommen jetzt gerade gern zum Dienst, weil zu Hause nur noch wenig geheizt wird. Auch bei uns ist die Wohnstube mittlerweile der einzige Raum, der noch befeuert wird, und wenn die wenigen Kohlen nicht ausreichen, müssen wir das Holz nehmen, das wir im Sommer und Herbst im Park gesammelt und im Garten aufgeschichtet haben. In den Schlafstuben im oberen Stockwerk ist es besonders nachts bitterkalt. Aber wenn ich an die Soldaten an der Ostfront denke, die noch viel schlimmeren Temperaturen ausgesetzt sind, kann ich mich nicht beschweren.
Wie jedes Jahr an Nikolaus hatten wir die erfreuliche Aufgabe, Weihnachtspäckchen für die Frontsoldaten zu packen. Jeder Soldat bekam ein kleines Holzkästchen mit etwa hundert Gramm Inhalt und einen persönlichen Brief.
Die Atmosphäre im Gruppenraum war gemütlich. Im Gesteck auf dem Tisch brannten Kerzen, während es draußen schon dunkel wurde, und wir sangen gemeinsam Weihnachtslieder. Selbst der Führer in seinem Porträt an der Wand wirkte an diesem Abend, als würde er wohlwollend auf seine Mädels herabschauen, die ihren kleinen Beitrag für Volk und Vaterland an der Heimatfront leisteten.
In mein Päcken legte ich eine Tafel Schokolade, ein Notizbüchlein mit schwarzem Ledereinband - so ähnlich wie das, was ich Vati geschenkt habe -, ein Fläschchen Rasierwasser, eine Packung Lakritzbonbons und selbstgestrickte Wollsocken.
Auf den kleinen Bogen Briefpapier schrieb ich in Schönschrift:
„Lieber unbekannter Soldat. Aus Dankbarkeit für deinen tapferen Einsatz möchte ich dir dieses Päckchen schicken. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber es soll dir zeigen, dass daheim jemand an dich und deine Kameraden denkt. Bleib stark und ein frohes Weihnachten, fernab von der Heimat."Ich schluckte, als ich meine Unterschrift darunter setzte, das Papier faltete und es obenauf legte. In den letzten Jahren gab es nichts, was diese Abende für mich trüben konnte. Es macht mir Freude, einen anonymen Soldaten zu beschenken, der vielleicht sonst nicht viel bekommt. Aber heute fiel es mir schwer, nicht an Vati zu denken. In seinem letzten Brief schrieb er uns, dass er bald wieder in den aktiven Einsatz verlegt werden wird. Es schnürt mir die Brust zu, wenn ich daran denke.
„Mutter hat daheim Bratäpfel im Ofen. Jetzt einen davon und der Abend wär perfekt", seufzte Margot neben mir, die ebenfalls ihren Brief beendet hatte.
„Oh ja! Ich liebe den Duft von Weihnachten, nach Zimt und gerösteten Walnüssen", schwärmte nun auch Hanni.
„Hör auf, mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen!"
„Was habt ihr zum Nikolaus bekommen?"
Ich lauschte schweigend den durcheinander brabbelnden Stimmen meiner Kameradinnen. Worüber gesprochen wurde, war eigentlich unwichtig; es war das Schwatzen an sich, was zählte. Nach dem Thema Essen wendeten sie sich bald dem zweitwichtigsten Thema zu: Jungs.
„Ich würde gern als Krankenschwester arbeiten. Dann könnte ich den ganzen Tag die Soldaten pflegen und vielleicht ist ja auch mal ein ganz hübscher dabei." Hanni kicherte.
„Männer in Uniform sehen einfach gut aus."
„Die Männer im Lazarett aber nicht mehr", murmelte ich. Ich konnte es mir nicht verkneifen. Die Bilder aus Im Westen nichts Neues strömten immer wieder ungebeten auf mich ein.
„Ach, sei doch keine Spielverderberin."
„Kannst du überhaupt Blut sehen?", fragte ich Hanni.
Sie druckste herum.
„Ich glaube, in einem echten Lazarett an der Front würdest du es keine zehn Minuten aushalten."
„Luise", mischte Gertruds warnende Stimme sich ein. „Mach den anderen keine Angst. Ich finde es sehr vorbildlich, wenn sie im Lazarett aushelfen wollen. Wir müssen jetzt alle stark sein und zusammenstehen, um unseren Soldaten Rückhalt zu geben. Es ist wahr, die Verletzungen, die sie davontragen, sind manchmal schrecklich. Aber wenn man uns als Krankenschwestern einteilt - was rascher passieren kann, als ihr glaubt -, müssen wir unsere Pflicht tun. Und das werden wir auch, nicht wahr, Mädels?"
„Das werden wir", schallte es durcheinander.
Nur ich sagte nichts. Eine unerklärliche Abwehrhaltung hatte sich in mir breitgemacht. Ich lauschte den eifrigen Worten Gertruds, die mir immer eine Gänsehaut verursacht hatten ... und konnte nur noch Gleichgültigkeit empfinden.
Einige Minuten später, als ich aufstand, um auf Toilette zu gehen, nahm Gertrud mich zur Seite.
Sie blickte mir besorgt in die Augen. Ihr Dutt saß so perfekt wie eh und je und ließ sie älter wirken, als sie war. „Luise, ist alles in Ordnung bei dir?"„Wieso fragst du?", erwiderte ich ausweichend.
„Du kommst mir in letzter Zeit verändert vor, bist weniger bei der Sache. Ist irgendetwas vorgefallen?"
Ich zuckte mit den Schultern. Sollte ich ihr die Frage stellen, die mir schon seit Tagen auf der Seele brannte? Früher hätte ich nicht gezögert, damit zu Gertrud zu gehen. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, ob sie mich verstehen würde. Doch ich wollte mich so gern irgendjemandem anvertrauen. „Glaubst du, dass ...", begann ich zögernd und senkte meine Stimme. „Ich meine, ich habe mich gefragt ... könnte es sein, dass im Reich Dinge passieren, von denen unser Führer gar nichts weiß?"
Ich schaute über die Schulter auf das Hitler-Bild, wie um mich zu vergewissern, dass er nicht wirklich dort stand und zuhörte. „Dinge, die ihn schockieren würden, wenn er davon wüsste?", flüsterte ich.
Gertrud hob die Augenbrauen. „Was meinst du?"
Ich presste die Lippen zusammen. Das Geheimnis, das Ilse mir anvertraut hatte, wog immer noch schwer auf meinen Schultern. Ihr Vater versteckte sich wie ein Verbrecher im eigenen Land. Ich konnte nicht anders, als zu denken, dass er vielleicht besser in das Lager gegangen wäre. Damit hätte er bewiesen, dass er bereit ist, für Deutschland zu arbeiten. Und er hätte seine Familie nicht in Gefahr gebracht. Aber was, wenn er sich aus gutem Grund versteckt? Vor Menschen, die einen dreizehnjährigen Jungen zusammenschlagen. Ist so etwas überhaupt erlaubt? Ich wünschte, Gertrud könnte mir die alte Zuversicht zurückgeben - darin, das alles gut werden wird. Doch ich wusste auf einmal, dass diese Zeiten vorbei waren.
„Luise?", hakte Gertrud nach.
Ich schüttelte den Kopf. „Schon gut. War nur so ein Gedanke ..."
Sie runzelte die Stirn.
Gott sei dank - ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde - heulten in diesem Moment die Sirenen los und wir mussten alle in den nächsten Bunker rennen, sodass Gertrud meine seltsame Frage höchstwahrscheinlich vergaß.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...