Freitag, 25. August 1944

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Freitag, 25. August 1944

Ich habe eine verbotene Entdeckung gemacht.

Es war einer dieser Tage, an denen Mutti mal wieder der Putzfimmel gepackt hatte. Sie rauschte mit Schürze und Staubwedel bewaffnet an mir vorbei, während ich die Diele fegte. Wie immer, wenn sie so hektisch umherwuselte, wäre ich ihr am liebsten aus dem Weg gegangen, aber wir waren alle zum Mithelfen verdonnert worden. Oskar musste den Rasen mähen und Gerda Staub wischen.

„Luise, bringst du bitte das alte Ding in den Keller! Das steht jetzt schon seit Wochen hier herum und wird nicht schöner!", rief Mutti mir im Vorbeigehen zu und deutete auf die Stehlampe im Flur, deren roter Lampenschirm bereits einige Brandflecken aufwies.

Ich schleppte das schwere Teil die Treppe hinunter und drückte die Stahltür zum Luftschutzkeller mit meinem Körpergewicht auf. Muffiger Geruch schlug mir entgegen. Die nackte Glühbirne an der Decke spendete schwaches Licht. Wie oft hatten wir hier unten schon die Nächte verbracht und auf Entwarnung gewartet? Auch am Tage wirkte der Raum mit dem Steinboden und unverputzten Wänden nicht gerade einladend. Allerdings konnte man sich ganz gut die Zeit vertreiben. Da alles brennbare Material auf behördliche Anordnung schon lange vom Dachboden entfernt worden war, standen im Keller eine Menge Kisten und Kartons mit altem Kram herum.

Als ich die Stehlampe in eine der hinteren Ecken wuchtete, fiel mir in einem Kistenstapel ganz unten ein Karton mit der Beschriftung „Bücher" auf. Das weckte sofort meine Neugier. Vielleicht gab es hier neues Lesematerial für mich. Danach war ich immer auf der Suche. Und solange ich im Keller blieb, konnte Mutti mir keine anderen Aufgaben zuteilen. Sie war wahrscheinlich so beschäftigt, dass sie nicht einmal merken würde, wenn ich nicht wieder auftauchte.

Ich zog die Bücherkiste hervor und holte ein Buch nach dem anderen heraus. Einige waren alte Kinderbücher, die Mutti weggepackt hatte, aber auch Werke von Goethe und Storm waren darunter. Ich legte mir den „Schimmelreiter" zur Seite. Dann erweckte ein Buch ganz am Boden der Kiste meine Aufmerksamkeit. Der braune Stoffeinband war abgenutzt und die Aufschrift schwer zu entziffern. „Im Westen nichts Neues", las ich, von Erich Maria Remarque.

Wieso kam mir dieser Name so bekannt vor? Ich ließ die dünnen Seiten an meinen Fingern entlang gleiten und überflog die klein gedruckte Schrift. Der Geruch von altem Papier stieg in meine Nase. Es ging offensichtlich um den großen Krieg von 1914. Ich wollte das Buch schon wieder weglegen, da fiel es mir wieder ein: Remarque war einer der verbotenen Autoren! Im Deutschunterricht hatten wir gelernt, dass seine Werke bei der Bücherverbrennung von '33 vernichtet worden waren.

Vati fand es eine Untat, dass die Deutschen mit ihrer langen Kulturgeschichte, das Volk der Dichter und Denker, eine solche Sünde begehen konnten. Angeblich seien diese Bücher undeutsch – der „Versuch jüdisch-bolschewistischer Autoren, das Deutschtum zu untergraben".
Ich fragte mich, warum meine Eltern ein verbotenes Buch aufgehoben hatten. Oder wussten sie nicht, dass es sich in der Kiste befand?

Ich nahm es heimlich mit auf mein Zimmer und fing an, darin zu schmökern.

Jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Es ist so grausam und gleichzeitig so fesselnd, dass ich mich nicht losreißen kann. Langsam verstehe ich auch, warum dieses Buch verboten wurde. Die Schilderungen des Krieges an der Westfront hören sich so ganz anders an als die heldenhaften Geschichten, die wir beim Bund Deutscher Mädel und in der Schule lesen. Auch die heroischen Bilder in der Wochenschau haben damit überhaupt nichts zu tun. Sind das alles Lügen? Aber weshalb sollte der Führer uns anlügen?

Ich muss immer wieder an Vati denken, der zur Zeit in einem Lazarett an der Ostsee liegt. Er hat uns nie davon erzählt, wie es ist - da draußen im Feld, während einer Schlacht. Ob er oft Angst hat? Bestimmt hat er schon viele Kameraden sterben sehen, so wie Paul Bäumer. Wie schrecklich muss das für ihn sein! Ich wünschte, er müsste nie wieder zurück in den Einsatz. Aber das würde nur gehen, wenn er eine permanente Verletzung davontragen würde, wie Herr Schmidt. Und das wünsche ich mir auch wiederum nicht. Vor ein paar Tagen hat er uns geschrieben, dass er bald Heimaturlaub bekommt. Ich kann es kaum erwarten!

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt