Montag, 8. Januar 1945
Ich wünschte, ich könnte den gestrigen Tag vergessen. Ich wünschte, er würde einfach aufhören zu existieren. Es fühlt sich alles immer noch nicht wirklich real an. Als würde nicht ich das erleben, sondern eine Figur in einem Buch ...
Es war ein trüber Sonntag. Wir hatten das Wochenende frei bekommen. Obwohl die Arbeit im Lazarett anstrengend war, wäre ich lieber dort gewesen, als zu Hause zu hocken, wo meine Gedanken machten, was sie wollten. Ich saß auf der Fensterbank im Erker und starrte hinaus ins trübe Grau des Himmels, in dem jederzeit wieder die Schatten der Bomber auftauchen könnten. Das Buch, das Ilse mir geliehen hat, „Jane Eyre", lag geöffnet in meinem Schoß, aber heute konnte ich mich davon nicht mitreißen lassen.
Gerda spielte auf dem Sofa mit ihren Anziehpuppen aus Pappe, während Oskar sich irgendwo mit seinen Freunden herumtrieb. Mutti saß am Tisch und schälte Kartoffeln. Mein Blick wanderte immer wieder zur obersten Schublade unserer Schrankwand, wo sich der gefährliche Brief befand. Ich hatte ihn nicht noch einmal gelesen, aber mir war noch immer jedes Wort in Erinnerung.
Schließlich setzte mich an den Flügel, um mich etwas abzulenken. Doch auch das klappte nicht richtig. Die Töne wollten nicht fließen. Eine innere Unruhe hatte mich erfasste, die ich mir nicht erklären konnte. Ich wollte aufspringen und im Zimmer auf und ab wandern wie ein gefangener Tiger. Aber damit würde ich alle nur verrückt machen.
„Luise, setzt du bitte die Kartoffeln auf?", fragte Mutti und schob die Schüssel mit den geschälten Knollen zum Tischrand. Die Schalen bewahrten wir auch auf, um daraus später noch eine Suppe zu kochen.
Froh, etwas zu tun zu haben, sprang ich auf.
Da klingelte es an der Tür. Ich zuckte zusammen. Der Ton wirkte heute durchdringender als sonst. Mutti und ich wechselten einen Blick. Ich sah, dass auch sie überrascht war, weil wir nicht mit Besuch gerechnet hatten. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, bevor sie aufstand.
Kurz rumorte es in meinem Bauch, aber ich schob das Gefühl beiseite. Durch die geöffnete Stubentür hörte ich die Stimme eines Mannes, der etwas von einem Brief sagte. Komisch, dachte ich, am Sonntag kommt doch sonst keine Post. Als Mutti nicht gleich wiederkam, ging ich, von Neugier und einem unerklärlichen Gefühl der Beklemmung getrieben, zur Stubentür und schaute durch den Spalt in die Diele.
Ich sah Mutti von hinten, ihre blonde Hochsteckfrisur, aus der sich eine Strähne gelöst hatte, die Schleife der blauen Schürze in ihrem Rücken. Sie hielt einen geöffneten Brief in der Hand. Während sie las, schwankte sie leicht und musste sich an der Wand abstützen. In dem Moment wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert war.
Dann sackte sie in sich zusammen. Ihre Knie gaben einfach nach und das Briefpapier flatterte zu Boden wie ein Herbstblatt im Wind. Ihre Schultern bebten. Ich hätte zu ihr gehen sollen, doch meine Füße waren wie festgewachsen. Ich starrte nur auf das Blatt Papier, das auf den Dielen lag. Deutlich erkannte ich den amtlichen Stempel.
Mutti drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht war aschgrau, ganz gespenstisch. „Otto ist vermisst", flüsterte sie heiser. Durch das Rauschen in meinen Ohren verstand ich sie kaum.
Sie fing an zu weinen, wurde von Schluchzern regelrecht geschüttelt.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um die Übelkeit zurückzuhalten. Der Brief lag noch immer auf dem Boden ein Stück hinter ihr. Ich musste wissen, was darin stand. Mit zögernden Schritten ging ich darauf zu. Meine Beine fühlten sich schwach an und mein ganzer Körper vibrierte vor Anspannung, als würde ich mich einem Monster nähern, und nicht einem unschuldigen Stück Papier.
Es dauerte eine Weile, bis ich meine Hand dazu bringen konnte, nicht mehr so sehr zu zittern, sodass ich die Worte entziffern konnte. Es waren nur wenige Zeilen in unpersönlicher Schreibmaschinenschrift. Mir fiel auf, dass das kleine ‚s' und ‚m' sehr dünn gedruckt waren. Vielleicht hingen die Tasten. Solche Feldschreibmaschinen waren sicherlich nicht die neuesten Modelle. Es war ein vollkommen absurder Gedanke, aber in diesem Moment klammerte sich mein Geist daran wie ein Ertrinkender an den Rettungsreifen.
Schließlich aber zwang ich mich, den Brief zu lesen.
Sehr geehrte Frau Hofmann,
Ich sehe mich heute veranlasst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann, Leutnant Otto Hoffmann, seit dem 23.12.1944 vermisst wird.
Während der schweren Kämpfe im Raum Budapest haben Ihr Mann und einige andere Männer die mutige Aufgabe übernommen, den Russen von unseren Stellungen so lange als irgend möglich fernzuhalten, wodurch es uns möglich war, die Lage wieder zu ordnen. Jedoch brachten die besonders schweren Kämpfe es mit sich, dass von dem Alarmtrupp, den Ihr Mann anführte, niemand zurückkehrte. Ich gehe davon aus, dass die Männer der Gruppe entweder gefallen oder in Gefangenschaft geraten sind. Leider macht es uns die momentane Lage unmöglich, weitere Nachforschungen in den betreffenden Kampfgebieten anzustellen. Ich möchte Ihnen aber versichern, dass meine Anstrengungen, etwas über den Verbleib Ihres Mannes in Erfahrung zu bringen, nicht ruhen werden. Mit dem Ausdruck meines großen Bedauerns um einen guten Offizier und meines tiefsten Mitgefühls verbleibe ichMit freundlichen Grüßen,
Hauptmann Arnold Lenz, KompaniechefP.S. Wir übersenden Ihnen alsbald die persönlichen Gegenstände Ihres Mannes, die zurückgeblieben sind.
Mir wird auch jetzt wieder schlecht, während ich das schreibe, und meine Hände zittern wie verrückt, aber ich muss versuchen, mich unter Kontrolle zu behalten. Es reicht schon, dass Mutti vor Kummer kaum mehr ansprechbar ist. Vati hat mich gebeten, mich um alle zu kümmern, bis er wiederkommt.
Und das wird er! Im Brief stand ja, dass der Hauptmann weitere Nachforschungen anstellen wird. Er hat Vati noch nicht aufgegeben und ich werde das auch nicht.
Die restlichen Stunden des Tages verliefen ineinander wie die Farben auf der Leinwand eines Aquarellkünstlers. Wir kamen kaum zur Ruhe. Dr. Schlieffer, Fräulein Hagebusch und die Schmidts hatten irgendwie von der Nachricht erfahren. Sie alle versprachen Mutti, ihr zu Diensten zu sein, wann immer sie etwas brauchte. Fräulein Hagebusch nahm sofort Gerda zu sich nach oben, um ihr eine ihrer berühmten Geschichten zu erzählen.
Tante Martha zog mich tröstend in die Arme, doch ich befreite mich rasch und versuchte, zu lächeln. „Es geht mir gut." Sie taten alle so, als wäre die Sache schon klar!
Vorhin habe ich gehört, wie Mutti mit Herrn Schmidt über den Brief sprach. „Was meinte er mit Alarmtrupp?", fragte sie mit zitternder Stimme. Mein Herz klopfte so laut, dass ich die Antwort fast nicht hörte.
„Ein Himmelfahrtskommando", antwortete er bitter. „Nichts weiter als die euphemistische Bezeichnung für eine Strafkompanie." Seine Worte klangen hart in ihrer Nüchternheit und ich hörte, wie Mutti aufstöhnte. Bestimmt dachte auch sie an Vatis letzten Brief. War er ihm zum Verhängnis geworden? Hatte er den Preis dafür zahlen müssen, dass er nicht einfach hinnehmen wollte, was er gesehen hatte? Ich darf nicht daran denken. Das macht mich nur verrückt.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...