Mittwoch, 31. Januar 1945
Das Völkerschlachtdenkmal ragte vor mir auf wie ein erhobener Zeigefinger - ein massives Gebilde aus grauem Stein, das an einen anderen Krieg in einer anderen Zeit erinnert. Auch jetzt gab es noch ein paar neugierige Besucher, die sich das Monument ansehen wollten. Ich war zuletzt mit meiner Schulklasse vor ein paar Jahren hier gewesen. Wenn man die vielen Stufen erklimmt, hat man eine wundervolle Aussicht auf Leipzigs Umgebung. An beiden Seiten des Denkmals befanden sich Notstollen, die ich hoffentlich nicht brauchen würde.
Ich ließ das Völkerschlachtdenkmal hinter mir und bog in das Wohnviertel ein. Die Gegend hatte sich kaum verändert und es fiel mir nicht schwer, den Weg zu Onkel Philips Laden zu finden. Die Schaufenster waren bereits von Verdunkelungsrollos verdeckt, doch das Schild an der Tür zeigte noch immer „Geöffnet" an. Würde mein Onkel mich wiedererkennen?
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, drückte ich die Tür auf. Ein leises Bimmeln kündigte mein Eintreten an. Mit einem nervösen Flattern in der Magengrube schaute ich mich um. Es war niemand da. Zu beiden Seiten säumten Regale mit Lebensmitteln und anderen Waren die Wand. Sie waren nicht so gut gefüllt, wie ich es in Erinnerung hatte, aber in den Körben vor der Theke entdeckte ich Steckrüben, Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfel und sogar etwas Grünkohl. Da Obst und Gemüse zum Luxusgut geworden sind, waren die Preise entsprechend teuer.
Auf der Theke stand noch immer die alte, leicht verrostete Registrierkasse. Onkel Philip hatte mich manchmal darauf tippen lassen, wenn gerade kein Kunde zu bedienen war. Sogar das Glas mit den rot-weiß-gestreiften Pfefferminzbonbons stand noch neben der Kasse.
Ich war so in meine Erinnerungen versunken, dass mich die brummige Stimme zusammenzucken ließ. „Wie darf ich Ihnen behilflich sein, junge Dame?"
Onkel Philip war aus der Hintertür getreten, die zum Lager führt. Alles an ihm wirkte vertraut - sein schwarzer Schnauzbart, die Lachfältchen um die Augen und die Krücken, auf die er sich seit seiner Verletzung im Großen Krieg stützte. Er musterte mich abschätzend und versuchte offenbar, mich einzuordnen.
„Onkel Philip. Ich bin es", sagte ich schüchtern und fühlte mich wieder wie das zehnjährige Mädchen.
„Ja, Potzdonnerwetter noch mal. Gibt's denn so was?", polterte er los und humpelte dann, so schnell er konnte, auf mich zu. „Luise?"
Er drückte mich so fest, dass die Luft aus meiner Lunge gepresst wurde. Etwas unbeholfen ließ er mich wieder los und hielt mich auf Armeslänge Abstand, um mich noch einmal zu betrachten. „Ja, tatsächlich! Du bist ja richtig erwachsen geworden! Aber was hab ich erwartet. Es sind ja genug Jahre vergangen."
Er tätschelte mir die Wange, wie er es früher getan hatte. „Hat deine Mutter dich geschickt?"
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Kurz zogen sich seine Mundwinkel nach unten, dann humpelte er zur Tür, drehte das „Geöffnet"-Schild um und rief mir über die Schulter hinweg zu: „Setz dich! Möchtest du etwas trinken? Eine Tasse heiße Schokolade?"„Hast du so etwas da?"
„Für meine kleine Nichte schon." Er lachte.
Ich fragte mich, warum wir nicht schon viel eher auf die Idee gekommen waren, bei unserem Onkel Lebensmittel zu kaufen, die woanders nicht ohne weiteres zu bekommen waren. Aber Mutti wollte nicht „betteln" gehen, wie sie es nannte.
Nach kurzer Zeit kehrte Onkel Philip zurück und reichte mir eine dampfende Tasse. Ich wärmte meine klammen Finger, während er sich einen Schemel heranzog und mir gegenüber Platz nahm.
„Wie geht es euch?", fragte er.
Ich nippte an der köstlich süßen Schokolade. „Mutti, Oskar und ich schlagen uns ganz gut durch. Gerda wohnt jetzt bei Omi und Opi."
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...