Dienstag, 10. April 1945

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Dienstag, 10. April 1945

Gerade sitzen wir wieder einmal im Keller fest.

Während draußen die Sirenen Alarm schlagen, schreit drinnen das Baby. Der zweieinhalb Monate alte Felix ist ein richtiges Schreikind. Frau Joseph hat ihn gestillt, doch jetzt liegt er schon wieder in seiner Wiege und brüllt sich die Kehle aus dem Leib. Alle Anwesenden versuchen zwar, das ständige Wimmern und Schreien des Säuglings zu ignorieren, doch es hebt nicht gerade unsere Stimmung. Ich bin immer wieder erstaunt, was so ein winziges Würmchen für laute Töne hervorbringen kann. Dabei ist der Kleine nicht der Kräftigste. Ich habe einmal gehört, wie Mutti die Vermutung äußerte, dass er nicht genug Milch bekommt. Frau Joseph ist so dünn und blass, dass die Haut über ihren Knöcheln fast transparent wirkt. Sicher belastet die Sorge um ihr Kind sie nervlich sehr stark. Auf mich wirken Mutter und Sohn wie zwei entwurzelte Pflänzchen, die aus ihrer heimatlichen Wiese in eine harte, raue Landschaft verwehrt wurden, in der sie keinen Fuß fassen können.

Frau Becker, eine unserer Flüchtlings-Untermieterinnen, zetert wieder einmal über irgendetwas. Sie hat nach einer Weile der Eingewöhnung bei uns angefangen, zu reden. Und wie sie reden kann. Am besten ist sie darin, sich aufzuregen. Über die Lebensmittelrationen, die immer mehr gekürzt werden, über die zunehmenden Tieffliegerangriffe, die sogar am Tag stattfinden, sodass man nicht einmal mehr gefahrlos einen Spaziergang machen kann, über die schlechten Nachrichten von den Fronten, über das miese Wetter ...

Auch wenn sie in vielen Dingen sicher recht hat, kommt mir das Gemecker zu den Ohren raus. Es bringt doch nichts, sich aufzuregen. Herr Becker, ihr Ehemann, ist hingegen kein Mann vieler Worte. Er sitzt mit vor der Brust verschränkten Armen da und hängt seinen eigenen Gedanken nach.

„Es ist ja auch eine Schande", fängt Frau Becker gerade wieder an, „wie es mit der Kultur in diesem Lande bergab geht, seit dieser Krieg angefangen hat. Jetzt kann man nicht mal mehr ein Theater oder die Oper besuchen. Es sind ja alle an der Front. Und wo soll Deutschland bitte nach dem Krieg seine Dichter und Denker wieder hernehmen? Die neue Generation verwahrlost ja auch zusehends." Dabei fliegt ihr Blick zu Oskar. „Kaum eine Schule ist noch offen. Und dann ziehen unsere Kinder statt zur Schule in den Krieg."

Das erinnert mich an Anton. Ich habe eine Postkarte von ihm bekommen, die er mir von seinem Ausbildungsort geschrieben hat. Es war nur eine kurze Nachricht in großen, schrägen Lettern, aber es hat mich sehr gefreut, dass er an mich gedacht hat. „Morgen ist Vereidigung", schrieb er. „Danach kommen wir zu unserer Einheit. Ich weiß nicht, wie bald ich wieder zum Schreiben kommen werde."

Das war vor etwa zwei Wochen. Ob seine Familie in der Zwischenzeit wieder etwas von ihm gehört hat? Antworten konnte ich ihm leider nicht, da er keine Feldpostnummer angegeben hat.
Jetzt wird es immer schlimmer mit dem Lärm draußen. Wir tragen alle unsere Helme und die Gasmasken hängen an den Haken an der Wand bereit. Bis jetzt hatten wir Glück. Lass es bitte auch heute so sein! Der Krieg ist bald vorbei, das sagen und denken alle. Nur noch ein paar Wochen durchhalten.

Detonationen erschüttern den Boden unter meinen Füßen. Betonstaub rieselt auf uns herab. Die Einschläge sind so nah, dass es mich an den Angriff am Hauptbahnhof erinnert. Nur jetzt habe ich keinen Anton, der meine Hand hält. Frau Joseph drückt ihren Jungen an sich. Frau Becker zuckt bei jedem Einschlag zusammen. Selbst Oskar sitzt still und mit angezogenen Beinen auf der Bank.

Herr Becker ist gerade noch einmal aufgestanden, um noch eine Hacke oder Pike zu holen, damit wir uns im Ernstfall aus dem Keller befreien können. Also rechnet er mit dem Schlimmsten. Er muss es ja wissen, denn sie kommen aus dem ausgebombten Köln.

„Diesmal sind sie direkt über uns", sagte er.

Frau Becker protestierte und wollte ihn nicht gehen lassen, doch er war entschlossen. Die schwere Luftschutztür steht jetzt einen Spalt breit offen, damit er rasch wieder hereinschlüpfen kann. Ich hoffe, er beeilt sich. Die Einschläge draußen donnern immer lauter. Meine Hände sind kalt und schweißnass und meine Kehle ist trocken. Alle im Keller sind verstummt. Wir warten angespannt auf die Rückkehr von Herrn Becker.

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt