Sonntag, 20. Mai 1945

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Sonntag, 20. Mai 1945

Die letzten Tage vergingen in emsiger Geschäftigkeit. Mutti, Oskar, ich und sogar Opi halfen bei den Aufräumarbeiten in Leipzig mit. Überall haben sich deutsche Zivilisten, hauptsächlich Frauen, aber auch einige ältere Männer, zu Räumtrupps formiert. Es ist uns wohl allein ein Bedürfnis, dazu beizutragen, die hässlichen Narben dieses Krieges zu beseitigen. Die schweißtreibende körperliche Arbeit tut gut und hält meine Gedanken davon ab, sich ständig im Kreis zu drehen.

Heute gingen wir danach noch einmal in unsere alte Straße, um unseren Nachbarn Hallo zu sagen. Es ist immer noch schmerzhaft, die leere Stelle zu sehen, an der einmal unser Haus gestanden hat. Es kommt mir so vor, als wäre mit dem Einsturz auch mein altes Leben in sich zusammengestürzt. Es wird nie wieder so ein wie vorher.

Tante Martha freute sich wie erwartet, uns alle wiederzusehen. Frau Köhler und ihre Familie wohnen noch immer bei ihnen. Viel zu essen haben sie nicht. Jetzt nach Kriegsende ist der Hunger erst so richtig über uns hereingebrochen. Doch Tante Martha berichtete, dass auch sie ein Care-Paket von den Amerikanern abholen konnte. Antons Geschwister erzählten mir mit strahlenden Augen von den Süßigkeiten, die amerikanische Soldaten von ihren Panzern und Lastwagen geworfen hatten, als sie durch die Straßen von Leipzig rollten.

„Haben Sie etwas von Anton gehört?", fragte ich Frau Köhler.

„Leider nicht."

„Aber er wird bestimmt schreiben, sobald es ihm möglich ist", tröstete Tante Martha. „Wir haben uns beim Roten Kreuz erkundigt und sie werden uns benachrichtigen, wenn sie etwas von ihm hören."

Mutti sagte, das würde sie auch tun. Für Vati.

Auf dem Rückweg kamen wir an meiner Schule vorbei. Ich blieb stehen und betrachtete das alte Gebäude, das den Krieg wie durch ein Wunder fast unbeschadet überstanden hatte. Auf dem Hof saßen ein paar Patienten und genossen die Maisonne. Wann werden hier wohl wieder Primaner durch die Gänge laufen statt Hilfskrankenschwestern? Gibt es überhaupt noch genügend Lehrer?

Eine junge Frau im Schwesternkittel trat aus der Tür und reichte einem Patienten ein Tablett mit einem Wasserglas. Unter dem makellos weißen Häubchen erkannte ich braune Haare, die zu einem Dutt zusammengesteckt waren. In dem Moment blickte sie zu mir hin und ich erkannte sie.

Es war Gertrud!

Ich bat Mutti, kurz zu warten, und ging durch das Schultor auf sie zu. Sie kam mir auf halbem Weg entgegen und blieb vor mir stehen, das leere Tablett noch in der Hand.

Ich wusste nicht, was ich empfinden sollte. Alles war nun anders. Sie war nicht mehr meine Führerin und würde es nie wieder sein. Der BDM war wie alle Nazi-Organisationen verboten worden.

Gertrud lächelte unsicher. In den wenigen Wochen, in denen wir uns nicht gesehen hatten, schien sie um einige Jahre älter geworden zu sein. Resignation lag in ihren Augen.


„Wie schön, dich wiederzusehen, Luise. Die Frisur steht dir."

Ich brauchte eine Weile, bis mir einfiel, dass ich mir ja die Zöpfe abgeschnitten hatte. Seitdem hatte Gertrud mich nicht mehr gesehen.

„Geht es dir gut?", fragte sie.

„Ja", erwiderte ich steif.

Wir schwiegen uns an, waren uns auf einmal so fremd.

Sie drehte das Tablett in ihren Händen hin und her. „Luise. Die Gestapo ...", sie blickte sich unsicher um, als wenn die Geheimpolizei noch immer ihre Ohren und Augen überall hätte, „sie waren da, bevor der Krieg vorbei war, und haben mich über dich ausgefragt. Was ist vorgefallen?"

Mir wurde kalt. Ich wollte nicht wieder an diese furchtbaren Tage erinnert werden. Ich überlegte, ob ich ihr von meiner Verhaftung erzählen sollte, ob ich sie fragen sollte was sie ihnen über mich gesagt hatte. Aber Gertrud hatte sicher in bestem Wissen und Gewissen ausgesagt, wie immer nur um mich besorgt, und ich konnte ihr nicht böse sein.

Also machte ich eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist jetzt vorbei. Es ist zum Glück alles gut ausgegangen, auch für Ilse und ihren Vater."

Sie blickte zu Boden. Schämte sie sich für ihre früheren Ansichten?

„Und wie geht es dir?", fragte ich.

„Wie soll es mir schon gehen?", sagte sie leise und schluckte. „Es ist alles aus."

Ich ahnte, wie sie sich fühlte. So wie ich, als mein Haus in Trümmern gelegen hatte. Nur dass es für Gertrud ihre ganze Welt war, die in Scherben zerfallen war. Alles woran sie geglaubt hatte, war als Lüge entlarvt worden. Sie hatte keinen Führer mehr, keinen Halt, keine Zukunftsvision.
Auch ich hatte vieles verloren, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich das Wichtigste noch hatte: meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Ich legte Gertrud kurz meine Hand auf die Schulter und sagte nur: „Ich muss gehen. Meine Mutter wartet. Ich wünsche dir alles Gute!"

Damit drehte ich mich um und ließ sie stehen. Wir beide leben nicht mehr in der gleichen Welt.

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt