Samstag, 24. März 1945
Statt ins Lazarett schickte Gertrud mich heute zu der Flüchtlingsstelle des Roten Kreuzes. Dort brauchten sie noch Leute, die den zahlreichen Flüchtlingen aus den ausgebombten Städten und den Ostgebieten zeigen konnten, wo sie unterkommen würden. Die meisten wurden auf noch heil gebliebene Wohnungen aufgeteilt, in denen Zimmer frei waren.
Ich bekam eine junge Frau mit Säugling zugewiesen sowie ein älteres Ehepaar. Die junge Frau Joseph war schweigsam und blass, sie wirkte beinahe ein bisschen apathisch, während ihr Kind die ganze Zeit über erbärmlich schrie. Die ältere Frau schaute verkniffen und ihr Mann ein wenig traurig. Ich fragte mich, was sie wohl erlebt hatten, wagte aber nicht, nachzufragen. Wir zogen schweigend durch die Straßen bis zu der Wohnung, in die sie einziehen sollten.
Eine Frau von etwa fünfzig Jahren, die ihr eisgraues Haar in einen strengen Dutt gezwängt hatte, öffnete die Tür. Sie war elegant gekleidet und trug silberne Ohrringe. Auch ihre ganze Wohnung strahlte Eleganz und mittelständischen Wohlstand aus. An der Wand im Flur hingen ein Führerbild und das Bild eines schneidigen Offiziers, vielleicht ihr Mann. Sie blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Schar von Menschen vor ihrer Türschwelle.
„Guten Tag, Frau Bolten. Sie hatten angegeben, zwei freie Zimmer zur Verfügung zu haben. Deshalb hat das Rote Kreuz Ihnen diese geflüchteten Familien zugewiesen. Das sind Frau Joseph und Herr und Frau Becker."
Ihr Blick glitt über die vor ihr stehenden Menschen mit ihrer einfachen, zum Teil von der langen Reise noch beschmutzten Kleidung und das Urteil fiel eindeutig nicht positiv aus.
Sie nestelte mit einer Hand an ihrem Ehering herum. „Nun, also ... die Umstände haben sich ein wenig geändert. Eines der freien Zimmer ist bereits belegt, fürchte ich. Eine Schwägerin ... und das andere benötigt mein Mann als Arbeitszimmer. Er ist bei der Partei. Ich bedaure."
Sie klang überhaupt nicht so, als würde sie das bedauern.
„Aber diese Menschen brauchen eine Unterkunft. Sie können wohl kaum auf der Straße übernachten, vor allem mit dem Säugling", sagte ich.
Sie hob ihr Kinn leicht an. „Nun, es gibt sicherlich noch andere mögliche Anlaufstellen. Beispielsweise diese Heime. Da werden sie doch sogar mit kostenlosem Essen versorgt, oder nicht?"
„Das ist aber keine permanente Lösung."
„Nun, es ist ja auch nur, bis sie wieder zurückkehren können in ihre Heimat, nicht wahr?", säuselte Frau Bolten mit einem falschen Lächeln.
„Vielleicht können sie das nie wieder", rutschte es mir heraus. Ich war zu empört, um mich zurückzunehmen.
Sie schaute mich streng an. „Natürlich werden sie das. Zweifeln Sie etwa an unserem Sieg, Fräulein ...?"
Ich schrumpfte ein wenig zusammen. Zum Glück schritt Herr Becker ein, bevor ich eine Antwort hervorbringen konnte.
„Nichts für ungut. Wir finden schon noch etwas anderes. Kommen Sie."
Herr Becker zog mich am Arm fort und ich hörte noch, wie Frau Bolten die Tür hinter uns verriegelte.
„Mit so einer sollten wir uns nicht anlegen", sagte Herr Becker beschwichtigend zur mir. "Es hat sowieso keinen Zweck."
Ich wusste, dass er recht hatte. Selbst wenn ich sie melden würde, würde ihr Mann mit seiner Parteizugehörigkeit sicher eine Möglichkeit finden, sich aus seiner Verpflichtung herauszuwinden.
„Sie ist keine Ausnahme", fuhr Herr Becker wehmütig fort. Auch auf dem Lande wollten sie uns nicht haben. Das müssen Sie auch verstehen – wer mag schon gern fremde Leute bei sich aufnehmen?"
„Sie können ja nichts dafür, dass Sie fliehen mussten."
„Freilich nicht. Aber es hat halt uns getroffen und nicht die anderen."
Er klang so resigniert, dass ich mit meiner spontanen Idee hervorplatzte.
„Bei uns können Sie unterkommen. Sie alle. Wir haben zwei Zimmer im Obergeschoss, die wir frei machen könnten."
Frau Josephs Augen klärten sich zum ersten Mal von dem Schleier, der sie die ganze Zeit zu überziehen schien.
„Ja, hat Ihre Frau Mutter denn da nichts dagegen?", fragte Herr Becker.
„Ganz sicher nicht. Wenn wir helfen können ... Am besten gehen wir sofort zurück zur Meldestelle und geben meine Adresse an. Und dann kommen Sie alle mit zu uns nach Hause."
Natürlich sagte Mutti nichts dagegen - durfte sie ja auch nicht. Und so haben Oskar und ich unsere Kinderstuben im ersten Stock geräumt. Ich schlafe jetzt neben Mutti im Ehebett und Oskar in der Stube auf dem Sofa. Unsere Gäste dürfen unsere Küche und unser Bad mitbenutzen.
Es ist schon gewöhnungsbedürftig, auf einmal mit fremden Menschen zusammenzuwohnen. Aber ich habe das befriedigende Gefühl, etwas Gutes getan zu haben.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...