Samstag, 27. Januar 1945
„Ich gehe noch mal zum Dienst", rief ich Mutti heute Nachmittag zu. „Wir machen eine Sonderschicht. Es wird wohl später werden ..."
Mutti nickte nur. Sie saß in Vatis Lieblingssessel in der Stube und blätterte in einer Zeitschrift, aber es wirkte nicht so, als würde sie richtig hinschauen. Ihre Augen waren gerötet, wie so oft in letzter Zeit.
Wenn Mutti gewusst hätte, was ich wirklich plante, hätte sie mich sicher nicht gehen lassen. Aber es schien sie gar nicht zu interessieren.
Kritisch betrachtete ich noch einmal mein Spiegelbild im Garderobenspiegel. Die langen blonden Zöpfe hatte ich gelöst und mein Haar mit Muttis Haarnadeln in eine Hochsteckfrisur gezwängt. Darauf setzte ich noch ihre schicke fliederfarbene Filzkappe, nach französischer Art etwas schräg. Dann zog ich mir die Lippen mit dem roséfarbenen Lippenstift nach, den Mutti für besondere Anlässe in ihrem Schminkkästchen aufbewahrte. So zurechtgemacht fand ich, dass ich mindestens zwei Jahre älter wirkte.
Draußen war ein Hundewetter, wie Opa immer sagt. Ein eisiger Wind fegte mir beinahe die Mütze vom Haar, als ich mit gesenktem Kopf in Richtung Straßenbahn eilte. Ich drückte die Umhängetasche fest an mich, in der sich meine kostbare Tauschware befand: Muttis Zigarettenmarken.
Unser Treffpunkt war eine kleine Kneipe im Leipziger Norden. Martin hatte ihn ausgesucht. Er war vorgestern aus dem Lazarett entlassen worden und hatte mir versprochen, sich um ‚gewisse Dinge' zu kümmern. Dafür müsste ich mich aber mit ihm treffen. Ich hatte hin und her überlegt, ob ich es tun sollte. Aber wenn ich Ilse wirklich helfen wollte, hatte ich keine andere Wahl.
Der Weg war lang und als ich endlich aus der Bahn stieg, stand die Wintersonne schon tief über den Häuserdächern. Ein wenig mulmig war mir schon zumute, so weit weg von zu Hause. Viele Menschen waren nicht unterwegs. Die meisten machten nur noch die nötigsten Besorgungen und auch dann möglichst zu Zeiten, an denen ein Fliegeralarm weniger wahrscheinlich war, also am helllichten Tag. Wenn in diesem Moment ein Luftangriff gekommen wäre, hätte ich nicht gewusst, wo ich unterkommen sollte.
Jetzt im Januar wirkten die Mietshäuser mit den kahlen Bäumen am Straßenrand trostlos und öde. Zwei Jungen zogen ein quietschendes Handwägelchen voller Kohlen an mir vorüber. Ich blickte ihnen sehnsüchtig nach. Unsere Vorräte waren wieder einmal fast aufgebraucht.
Nachdem die Jungen um eine Ecke gebogen waren, blieb die Querstraße leer. Die Kälte kroch mir unter den Rock. Ich ging schneller und hielt nach der Kneipe Ausschau. Auf einmal war ich mich nicht mehr sicher, ob es so klug gewesen war, auf Martins Vorschlag einzugehen. Vielleicht hätte ich auf einen Treffpunkt in meiner Nähe bestehen sollen? Aber nun war es zu spät, um umzukehren.
Da bog auch schon eine dunkle Gestalt um die Ecke vor mir. An dem leeren Ärmel, der in der Tasche seines marineblauen Mantels steckte, erkannte ich Martin. Galant bot er mir seinen linken Arm an. Ich hakte mich zögernd bei ihm unter. Diese Situation war so ganz anders als im Lazarett, wo ich in BDM-Uniform und Schwesternkittel steckte und er der Patient war. Jetzt wirkte er wie ein ganz normaler junger Mann. Er hatte sich rasiert und die Haare gekämmt. Aus seinem Mundwinkel hing die gewohnte Zigarette, als er mich angrinste.
„Hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst." In seiner Stimme schwang eine gewisse Anerkennung mit.
Wir schlenderten schweigend weiter. Ich fragte mich, wie wir wohl auf andere wirken mochten. Ein junger, von der Front heimgekehrter Soldat, der seine Freundin ausführt? Ob ich so etwas tatsächlich einmal erleben werde?
In der Kneipe roch es nach Zigarettenrauch und Bier. Ein paar ältere Männer saßen an der Bar und starrten an die Wand oder in ihr Glas. Sie wandten uns den Kopf zu, als wir eintraten.
„Martin, heute in Begleitung einer jungen Dame?", rief der Mann hinter dem Tresen.
„Ganz richtig, Achim", erwiderte Martin. „Haste ein hübsches Plätzchen für uns? Weißt schon, ein bisschen ungestört."
Meine Wangen müssen glühend rot gewesen sein und ich konnte nur hoffen, dass die Männer es auf die Kälte schieben würden.
Der Wirt führte uns in den hinteren Teil des Lokals, der vom Eingang aus nicht direkt einsehbar war. Hier hing der Geruch nach abgestandenem Bratenfett in der Luft, vermischt mit der süßlichen Biernote. Ich setzte mich widerwillig auf das fleckige Stuhlkissen. Für diese Kneipe hätte ich mich nicht so fein machen müssen.
„Gut siehst du aus", sagte Martin, nachdem er sich mir gegenüber gesetzt hatte.
„Danke", murmelte ich und starrte auf die handgeschriebene Getränkekarte vor mir. „Kommst du oft hierher?"
„War früher meine Stammkneipe. Achim ist ein guter Bekannter. Der hält die Geschäfte hier am Laufen."
„Geschäfte?"
„Du weißt schon. Was wir auch vorhaben."
Ich schaute mich vorsichtig in dem halbdunklen Raum um. An den unmittelbaren Nachbartischen saß niemand. Trotzdem senkte ich meine Stimme. „Aber könnte es hier nicht jemanden geben, der uns belauscht?"
„Dafür haben wir ja dieses hübsche Plätzchen. Und ..." Er zwinkerte mir auf seine liebenswürdig-freche Art zu und beugte sich leicht vor, „wenn wir ein wenig wie Verliebte tuscheln und uns in die Augen schauen, wird schon keiner Verdacht schöpfen."
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte. Zum Glück wurden wir in diesem Moment von Achim unterbrochen, der uns nach unseren Getränkewünschen fragte.
Wir plauderten noch eine Weile über dies und das und ich bemühte mich, die verliebte Freundin zu spielen. Dabei hatte ich doch keine Ahnung, wie sich das anfühlt. Nachdem ich meine Limonade zur Hälfte ausgetrunken hatte, wurde ich langsam unruhig.
„Ich habe nicht so viel Zeit", sagte ich. „Ich muss vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein."
„Zu schade." Martin zuckte mit den Schultern und trank einen kräftigen Schluck. Dann kamen wir endlich auf den wahren Grund unseres Treffens zu sprechen.
„Hast du etwas dabei?", fragte er mit gesenkter Stimme.
Ich nickte. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich das kleine Etui mit den Zigarettenmarken aus der Tasche zog. Er steckte sie ganz beiläufig ein und reichte mir dann im Gegenzug einen Bogen mit Lebensmittelmarken. Ein kleines Stück Papier und doch so wertvoll für mich.
Als ich wenig später damit durch die dämmrigen Straßen eilte, wogen die Marken wie ein Stein in meiner Tasche. Ich hatte das Gefühl, jeder könnte sehen, dass ich etwas zu verbergen hatte, doch keiner hielt mich auf.
Was sollte ich jetzt damit anfangen? Bei uns in der Nähe kannten mich die Ladenbesitzer und würden sich sicher wundern, woher ich auf einmal so viele Marken hatte. Sollte ich sie direkt zu Ilse bringen? Aber die Matuzeks hatten noch weniger Möglichkeiten, an Lebensmittel zu kommen, als ich. Ilses Mutter verlässt kaum noch das Haus.
Dann kam mir die Idee. Kaum zu glauben, dass ich nicht schon eher darauf gekommen war. Ich könnte zu meinem Onkel gehen! Onkel Philip ist der Besitzer eines Gemischtwarenladens, oder war es zumindest früher. Ich hatte ihn schon etwa fünf Jahre lang nicht mehr gesehen, weil Mutti das nicht wollte. Irgendetwas ist wohl zwischen ihnen vorgefallen. Ich erinnere mich, wie ich als kleines Mädchen neben Oskar auf einer Kiste thronte und ein feister Mann mit Schnauzbart und Lachfältchen um die Augen uns eine Zuckerstange zusteckte.
Ja, Onkel Philip könnte mir vielleicht helfen. Sein Laden befindet sich ganz in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals. Ich werde zu ihm fahren, sobald ich die Gelegenheit habe. Mutti musste es ja nicht erfahren ...
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...