Mittwoch, 28. Februar 1945
Gestern war der schlimmste Bombenagriff auf Leipzig, den ich bisher miterlebt habe. Und ich war mit Anton mittendrin. Ich kann noch immer kaum glauben, dass wir mit dem Leben davongekommen sind und das verdanke ich zum größten Teil Antons umsichtigem Handeln.
Er hatte mich nach dem Dienst vor der Schule abgeholt, diesmal ohne Gerhard, was mich insgeheim freute. Wir stiegen zusammen in die Straßenbahn. Als wir am Hauptbahnhof umsteigen wollten, ging es los. Die Sirenen heulten und schon wenige Minuten später war der Himmel über uns dunkel von Flugzeugen. Anton war so geistesgegenwärtig. Er schaffte es irgendwie, sich trotz der langen Schlange vor dem Bunker einen Weg nach vorn zu bahnen, sodass wir gerade noch hineinkamen.
Ich weiß nicht, ob ich jemals so viel Angst hatte wie in diesem stockfinsteren Raum, eingezwängt mit Hunderten von Menschen. Das Pfeifen der Bomben schien von allen Seiten zu kommen. Jeden Moment dachte ich, es wäre gleich zu Ende. Aber Anton an meiner Seite zu haben, gab mir Kraft. Seine Hand war wie ein Rettungsanker für mich. Wir standen so nah beieinander, dass ich spüren konnte, wie seine Brust sich hob und senkte. Wenn er nicht gewesen wäre ... Ich glaube, allein hätte ich diesen Angriff nicht überstanden.
Irgendwann hörten die Einschläge auf und das Entwarnungsheulen ertönte. Mit zittrigen Knien stiegen wir aus dem Bunker und standen vor der fast vollkommen zerstörten Innenstadt. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich die Trümmer und Rauchwolken sah. All die schönen alten Häuser. Straßen, durch die schon Goethe gewandelt ist. Vati wäre entsetzt.
Langsam machten wir uns auf den Weg nach Hause. Ich konnte meinen Blick kaum von Anton abwenden. Auf einmal kam er mir total erwachsen vor. Der kleine Nachbarsjunge, mit dem ich zusammen auf der Schaukel gesessen hatte, war ganz verschwunden. Ich fühlte mich bei ihm sicher und ich wusste, dass ich ihm voll und ganz vertrauen konnte.
Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich ihm dann von Vatis Brief erzählte. Darüber hatte ich bisher mit niemandem gesprochen. Und erst durch dieses Geständnis wurde mir bewusst, wie sehr ich jemanden zum Reden gebraucht hatte. Ich hatte so lange versucht, die Gedanken daran zu unterdrücken, hatte mich beschäftigt gehalten durch den Lazarett-Dienst und die Versorgung von Ilses Vater. Doch die Sorgen um Vati saßen immer im Hinterkopf, egal, was ich tat. Und jedes Mal, wenn sie unerwartet wieder an die Oberfläche drängten, war es wie ein Erwachen aus einem Traum, wenn man auf einmal bemerkt, dass man in der hässlichen, unveränderten Wirklichkeit gelandet ist.
Während ich Anton davon erzählte, weinte ich. Zum ersten Mal seit Vatis Vermisstmeldung. Anton sagte nicht viel; er hielt mich einfach nur fest. Aber das genügte.
So schrecklich dieser Bombenangriff war, er hatte auch etwas Gutes, denn er hat uns einander so nah gebracht wie noch nie. Jetzt bin ich noch entschlossener, Antons Taschenuhr irgendwie wieder zurückzubekommen. Ich würde ihm so gern eine Freude machen.
DU LIEST GERADE
Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...