Montag, 4. September 1944
Die Sommerferien sind vorbei; heute hat die Schule wieder begonnen. Ich freute mich darauf, meine Freundinnen wiederzusehen. Oskar war weniger begeistert über das Ende der herrlichen Freiheit des Sommers. Morgens packte er seinen Schulranzen mit einer Miene, als würde es zu seiner Hinrichtung gehen.
„Vielleicht steht die Schule ja nicht mehr", sagte er hoffnungsvoll, als er sein Pausenbrot einsteckte.
„Sag doch so was nicht! Du solltest froh sein, dass es unsere Schule noch gibt, im Gegensatz zu so vielen anderen", sagte ich zu ihm.
Mutti ermahnte Gerda noch einmal, den Rückweg bloß nicht allein anzutreten, sondern darauf zu warten, dass Fräulein Hagebusch sie abholte.
„Und wenn ein Alarm kommt, lauft ihr sofort zum nächsten Bunker", rief sie uns hinterher.
Unser Gymnasium ist eine traditionsreiche Schule mit einem Jungen- und Mädchenflügel und einem eigenen Schulchor, der allerdings schon seit einiger Zeit nicht mehr zusammenkommt, weil unser Chorleiter eingezogen wurde. Ich gehe gerne zur Schule, auch wenn ich unseren jetzigen Musiklehrer nicht ausstehen kann.Auf dem großen Hof hatten sich schon mehrere Gruppen von Mädels versammelt, die schwatzend beisammen standen, während einige der kleineren Jungs wild durch die Gegend tobten. Ich gesellte mich zu meinen Klassenkameradinnen. Hannelore und Irmgard, die Unzertrennlichen, waren schon da, ebenso Margot und Ursel.
„Wie war's auf dem Land?", fragte ich Ursel.
„Hach, prima war's. Gar keine Bombenangriffe! Das kann man sich hier gar nicht mehr vorstellen. Und gute Luft und gutes Essen."
„Wir durften den ganzen Sommer Trümmer schleppen", meinte Hanni. „Da hast du dich fein gedrückt."
„Ob die Lehrer alle noch da sind?", überlegte Margot.
„Auf den Scheiber könnte ich verzichten", sagte ich. „Er schafft es, Musik zum langweiligsten Fach überhaupt zu machen! Und gemein ist er obendrein."
Wir plauderten weiter, während wir die Treppe zu unserem Klassenzimmer im zweiten Stock hinaufstiegen.
„Herzlich Willkommen, Klasse 9a!", stand an der Tafel. Herr Steuzelrather, unser Klassenlehrer, war noch nicht da. Dementsprechend herrschte im Raum eine Lautstärke, die selbst ein Unteroffizier auf dem Kasernenhof kaum überbieten könnte. Das Stimmenkonzert klang so schrill, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Ich will schließlich nicht schon mit fünfzehn taub werden wie Beethoven.
Als mein Blick über die Mädels glitt, stellte ich fest, dass unsere Klasse gewachsen war. Ich zählte um die vierzig Schülerinnen und einige Gesichter waren mir völlig unbekannt. Da war ein stämmiges Mädchen mit rotblonden Haaren und einer durchdringenden Stimme, um die sich mehrere Leute geschart hatten. Und ganz hinten in der Ecke saß ein Mädchen ganz allein am Fenster. Ihre langen ebenholzfarbenen Haare fielen wie ein glänzender schwarzer Vorhang halb vor ihr Gesicht. Um sie herum schien sich eine Art Blase gebildet zu haben, ein luftleerer Raum, der sie von den anderen abgrenzte. Ihre schmalen Schultern wirkten angespannt. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Tisch.
Als Herr Steuzelrather eintrat, verebbte der Lärm sofort. Unser Klassenlehrer hat so eine respekteinflößende Ausstrahlung, ohne auch nur einen Ton sagen zu müssen. Dabei ist er ein sehr freundlicher Herr mit Schnauzbart und buschigen grauen Augenbrauen.
Wir alle erhoben uns von unseren Plätzen, während Herr Steuzelrather gelassen zu seinem Pult schritt und seine Ledertasche darauf ablegte. Er öffnete die Schnappverschlüsse und holte Etui und eine Mappe hervor. Dann erst begrüßte er uns.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historical FictionLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...