Mittwoch, 17. Januar 1945
Heute Nachmittag erwartete mich Gertrud am Tor vor der Schule. Seit Vatis Vermisstmeldung war ich ihr aus dem Weg gegangen, auch wenn ich nicht genau wusste, wieso. Vielleicht war ihr das aufgefallen.
„Wie geht es dir?", fragte sie mich zur Begrüßung.
„Gut", erwiderte ich knapp und ging rasch weiter über den Schulhof. Sie beeilte sich, mit mir Schritt zu halten.
„Luise, habe ich dir irgendetwas getan?" Sie klang verletzt.
Ich seufzte innerlich, wandte ihr aber den Kopf zu und lächelte. Sie war immer eine gute Führerin für uns gewesen. Ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. „Nein, wie kommst du denn darauf? Ich bin nur nicht ganz ... bei der Sache."
„Ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil du so still warst in letzter Zeit", sagte Gertrud. „Du weißt doch, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn du willst, oder, Luise?"
„Natürlich", murmelte ich. Ich wusste, wie sie mich trösten würde, wenn ich ihr von Vati erzählte. Welche Ehre es sei, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Und dass man dafür auch Opfer bringen müsse. Und dass ich stolz auf ihn sein könne, weil er seinen Beitrag zum Endsieg geleistet hat ... Ich wollte es nicht hören.
Das Schlimmste ist, dass Gertrud es gut meint und wirklich daran glaubt. Nein - das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass ich auch daran geglaubt habe.
„Außerdem wollte ich dich loben", fuhr Gertrud fort. „Für deinen Einsatz hier. Dein Klavierspiel bringt den Patienten ein wenig Freude in ihren Alltag. Weiter so." Sie lächelte und ich dachte daran, wie sehr mich ein Lob von Gertrud noch vor einem Jahr mit Stolz erfüllt hätte. Die letzten Monate haben mich verändert. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, die „alte" Luise, die ich vorher war, gar nicht mehr richtig zu kennen. Wenn ich mir jetzt meine Tagebucheinträge vom letzten Sommer durchlese, kann ich nur den Kopf schütteln.
„Da ist ja unsere Luise", kam es von Martin, als ich etwas später mit Putzeimer und Besen das Zimmer betrat.
‚Unsere' Luise ... so etwas in der Art sagt er immer und ich werde immer ein bisschen rot dabei. Ich kann nicht genau sagen, ob er es nur scherzhaft meint oder ob mehr dahintersteckt. Ich fühle mich ja schon ein bisschen geschmeichelt von seiner Aufmerksamkeit ... aber er ist doch so viel älter als ich.
Ich kehrte das Zimmer durch.
„Hast du Lust, mit mir ins Kino zu gehen?" Er zwinkerte mir zu, während er am geöffneten Fenster stand und rauchte.
Ich war zu baff, um direkt etwas zu erwidern, obwohl ich sonst meist eine schlagfertige Antwort parat hatte. „Ich ... äh, darfst du das denn?", stotterte ich.
„Bin doch kein Gefangener, oder? Und außerdem werd ich bald entlassen."
„Oh", war alles, was mir einfiel. Um meine Verlegenheit zu überspielen, beschäftigte ich mich damit, einen besonders hartnäckigen Fleck vom Fußboden zu schrubben. „Dann freust du dich sicher, deine Familie und deine Freundin bald wiederzusehen", murmelte ich.
„Mutter, ja. Schwester auch. Freundin - ha! Die hat schon lange wen anders. War ihr wohl nicht mehr gut genug, einen Mann mit einem Arm zu haben."
Beschämt senkte ich die Augen. Ich würde so etwas nicht tun, oder? Meinen Freund verlassen, nur weil er im Kampf verletzt wurde? Eine fehlende Gliedmaße veränderte doch nicht die Gefühle, die man für jemanden hatte. Aber was weiß ich schon? Ich hatte ja noch nie einen Freund.
„Überleg dir das mit dem Kino", fügte Martin an.
Ich putzte schweigend weiter. Als ich mit dem Desinfektionsmittel die Bettgestelle abwischte, lächelte ich Joachim an. Der hielt schon Zettel und Stift parat.
„Wie geht's dir heute?", fragte ich, froh über die Ablenkung. Obwohl sein Lächeln nicht wirklich wie ein Lächeln aussah, sagten seine Augen mehr als tausend Worte. Ich hatte mich mittlerweile an den erschreckenden Anblick seines Gesichts gewöhnt und konnte unter der verbrannten Haut langsam den Menschen erkennen, der er mal war.
Mir geht es immer besser. Heute Morgen erstmals in der Milchsuppe ein eingeweichtes Brötchen bekommen, las ich.
Ich lächelte ermutigend. Ein labberiges Brötchen ist sicher nicht für jeden Anlass zur Begeisterung, aber für Joachim war es ein Zeichen, dass er vielleicht irgendwann wieder normale Nahrung zu sich nehmen kann.
„Dann wirst du vielleicht auch bald entlassen."
Er schüttelte den Kopf. Das dauert noch, kritzelte er. Aber solange du hier bist, macht das nichts. Spielst du heute?
Ich nickte. „Sobald ich mit dem Putzen fertig bin."
„Verdammt, die letzte Zigarette, das gibt's doch nicht", fluchte Martin und wühlte in seinen Sachen neben dem Bett.
Mir war schon aufgefallen, dass er ein ziemlich starker Raucher war.
„Kannst du dir nicht neue holen?", fragte ich ihn.
„Meine Marken sind alle", erwiderte er und zeigte mir seine leere Mappe. „Und das trotz der Sonderrationen."
Wir selbst haben noch einen großen Vorrat an Zigarettenmarken. Sie stehen jedem Erwachsenen zu, aber da Mutti nicht raucht, verstaut sie sie einfach in einer Schublade im Küchenschrank.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Wären Zigaretten nicht ein gutes Tauschmittel? Natürlich ist Schwarzhandel streng verboten, aber wenn ich Ilse damit helfen könnte ...?
Ich blickte mich im Raum um. Die anderen Patienten lasen, schliefen oder unterhielten sich leise und schienen nicht auf uns zu achten.
Ich senkte meine Stimme. „Es gibt es sicher Möglichkeiten, sich mehr zu besorgen", sagte ich möglichst beiläufig.
Er zog eine Augenbraue hoch.
„Ich ... ich meine", druckste ich herum. „Wo würdest du hingehen, wenn du etwas Bestimmtes bräuchtest, das es nicht so ohne Weiteres gibt?"
„Luise, Luise", sagte er mit Erstaunen in der Stimme.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Hatte ich mich jetzt verraten? Konnte ich ihm überhaupt vertrauen?
Doch er beugte sich näher zu mir und raunte: „Es gibt schon Wege, wenn man Leute kennt ..."
Ich schluckte. Seine Nähe und das, was er sagte, brachten mich ein wenig aus der Fassung. Er roch stark nach kaltem Rauch.„Brauchst du zufällig was?", fragte er, noch leiser.
Mein Herz pochte jetzt aufgeregt. „Na ja, es fehlt an allem und mein dreizehnjähriger Bruder ist ständig hungrig."
Er nickte ernst. Plötzlich blickte er über meine Schulter und als ich mich umdrehte, sah ich, dass uns einer der Männer von der gegenüberliegenden Seite aus beobachtete. Ich erschrak. Hatte er unser Gespräch gehört? Könnte man es uns falsch auslegen? Martin zog lachend an meinem Zopf, wie er es immer tat.
Ich ging darauf ein und schlug ihm spielerisch auf die Hand. „Lass mich bloß mit deinem Kino in Ruhe."
Er hob seinen Arm. „Schon gut, schon gut. Ich weiß, wann ich mich geschlagen geben muss."
Doch bevor ich mich wieder von ihm entfernte, flüsterte er mir noch ins Ohr: „Ich hör' mich mal um."Als ich aus dem Zimmer ging, überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. Hatte Martin tatsächlich Kontakte zum Schwarzmarkt, die ich nutzen könnte? Wenn ich die Zigarettenmarken gegen Lebensmittelkarten eintauschen könnte, dann müsste Ilses Vater vielleicht nicht mehr hungern.
Ich kann nicht glauben, dass ich ernsthaft darüber nachdenke! Ich weiß, dass viele Leute illegalen Tauschhandel betreiben, weil einfach mittlerweile alles so knapp geworden ist. Man kommt ja kaum noch über die Runden. Aber könnte ich es?
Ich tue es ja nicht für mich, sondern für Ilse - sage ich mir immer wieder. Aber das hilft mir auch nicht weiter, wenn ich erwischt werde.
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Ficção HistóricaLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...