Dienstag, 23. Januar 1945

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Dienstag, 23. Januar 1945

Als ich heut Nachmittag nach Hause kam, stockte ich mitten im Schritt, als ich sah, was bei unseren Nachbarn vor sich ging. Es schien, als würden bei Schmidts nun Flüchtlinge einziehen, eine ganze Großfamilie sogar. Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm, ebenso dick vermummt wie all die anderen Kinder, von denen die ältesten etwa zehn oder elf sein mussten, stand vor der Tür. Sie sahen alle ziemlich mitgenommen aus. Außer zwei Wäschesäcken und einem großen Koffer hatten sie keine Habseligkeiten bei sich.

Tante Martha öffnete die Tür und stieß einen kleinen Schrei der Überraschung aus. Dann zog sie die andere Frau in ihre Arme, wobei sie das Kleinkind fast erdrückte. In meinem Kopf fügten sich Puzzleteile zusammen.

Es war Antons Familie aus Breslau. Sie hatten es raus geschafft!

Aber wo war Anton?

Unschlüssig stand ich vor meinem Gartentor und spürte, wie mein Herz gegen meine Rippen pochte. Ich wollte sie jetzt nicht stören ... aber ich musste es wissen ... Tante Martha entdeckte mich und winkte mir kurz zu. Ich winkte zurück. Zwei der kleinen Mädchen blickten in meine Richtung. Ihre großen Augen schauten verstört und unsicher. Wie furchtbar muss es für die Kinder sein, aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen zu werden.

Ich eilte ins Haus. „Mutti?", rief ich, noch während ich meine Stiefel abstreifte.

Ich fand sie in der Küche, wo sie gerade das Abendessen zubereitete.

Obwohl Mutti in den letzten Wochen wie eine Schlafwandlerin durch die Gegend gelaufen war, tat sie, was sie tun musste, und war nie um einen Einfall verlegen, wie sie uns aus dem wenigen, was es gab, eine gute Mahlzeit zubereiten konnte. Jetzt blickte sie von der Schüssel mit dem Brotteig auf, den sie gerade knetete. An ihren Augen sah ich, dass sie wieder geweint hatte.

„Hallo Mutti", sagte ich und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Bei Schmidts sind Flüchtlinge angekommen. Ich glaube, es ist Antons Familie", sprudelte ich hervor. „Ich wollte gleich mal rübergehen und fragen, ob sie Hilfe brauchen. Könnten wir etwas Essen entbehren für die Kinder? Sie haben sicher eine weite Reise hinter sich."

Mutti schaute auf ihren Teig hinunter und seufzte. „Ich musste geriebene Kartoffelschalen unter das Mehl mischen, weil sie die Rationen schon wieder verkleinert haben."

„Das macht ihnen bestimmt nichts aus."

Sie nickte. „Wir können ein paar Brote schmieren." Sie sah so unendlich traurig aus, als sie es sagte.

Sie gab mir den Rest des alten Brotes und ich beschmierte ich ein paar Scheiben mit künstlicher Leberwurst, künstlicher Marmelade und Ersatzhonig - die echten Sachen gibt es ja nicht mehr.

Es war schon fast dunkel draußen, als ich an der Haustür der Schmidts klingelte. Dabei fühlte ich mich zurückversetzt in den Sommer, als ich mit einem Korb voller Pflaumen Herrn Schmidt begrüßt hatte ... und dabei auf Anton getroffen war.

„Ach, Luise! Noch mehr Besucher an einem Tag." Tante Martha wirkte glücklich und aufgekratzt. Sie trug ihre geblümte Kittelschürze, die bei mir sofort Erinnerungen an die Sommer meiner Kindheit weckte, als wir uns noch öfter in ihrem Haus aufgehalten und mit den Nachbarskindern gespielt hatten.

„Ich habe gesehen, dass ihr Gäste habt, und dachte mir, dass die Kinder vielleicht hungrig sind. Wir haben ein paar Schnitten geschmiert."

„Ach, Luischen!" Tante Martha schüttelte gerührt den Kopf. „Das wäre doch nicht nötig gewesen." Trotzdem winkte sie mich herein und ich folgte ihr in die kleine Küche am Ende des Korridors.

Die Neuankömmlinge drängten sich alle auf der Eckbank und mehreren herbeigeholten Stühlen um den Tisch herum. Die Kinder schauten mir neugierig entgegen. Ich stellte den Teller mit den Broten vor ihnen ab.

„Bedankt euch bei Luise", sagte Tante Martha. „Hanna, das ist Luise Hofmann, unsere Nachbarin." Sie legte mir einen Arm um die Schulter, während sie sprach. „Luise, erinnerst du dich an Hanna Köhler, meine Schwester? Sie ist einmal vor vielen Jahren hier gewesen. Aber bestimmt ist das zu lange her. Wie alt warst du da? Sechs?"

Ich hielt Frau Köhler meine Hand hin. „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise."

Sie schüttelte mir die Hand, während sie mit der anderen ihren Jüngsten mit Brei fütterte. „Drei Tage haben wir gebraucht. Wir hatten großes Glück, uns in dem Chaos nicht zu verlieren. Ich habe den Mädchen eine Wäscheleine ums Handgelenk binden müssen... Aber die meisten Gepäckstücke mussten wir zurücklassen."

„Es tut mir leid", sagte ich leise. Es muss schrecklich sein, aus dem eigenen Heim vertrieben zu werden, alles hinter sich lassen zu müssen und fast sein gesamtes Hab und Gut zu verlieren. Aber wenigstens hatten sie sich noch gegenseitig. Außer ...

Ich räusperte mich, aber die Frage, die ich so dringend stellen wollte, kam mir einfach nicht über die Lippen. Ich hatte Angst vor der Antwort.

Frau Köhler schüttelte betrübt den Kopf. „Wenn ich nur wüsste, was mit Anton ist."

Ich hielt die Luft an. „Wo ... ist er?"

„Er wurde kurz nach Neujahr als Wehrmachtshelfer zum Schanzen eingezogen. Die Evakuierung kam so plötzlich, dass ich nichts mehr von ihm gehört habe, bevor ... Nach allem, was wir wissen, ist er immer noch in der Kaserne in Breslau."

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kannte dieses Gefühl der Ungewissheit nur zu gut. Es ist das Schlimmste! Nicht zu wissen, was ist. Aber gleichzeitig bleibt diese gewisse Hoffnung, die einen aufrechterhält. Manchmal finde ich sie grausam - dann wiederum wüsste ich nicht, wie ich ohne sie weiterleben sollte.

„Aber sie werden doch die Jugendlichen nicht für die Verteidigung der Stadt heranziehen", tröstete Tante Martha.

„Breslau wurde zur Festung erklärt", kam auf einmal Herr Schmidts Stimme von der Tür. Ich drehte mich um. Er stand dort auf seinen Stock gestützt, die Sonnenbrille vor den Augen. Seine Miene war unleserlich, wie damals im Sommer. Sie ließ mir einen Schauer über den Rücken rinnen. „Das heißt, dass keiner mehr rausgelassen wird. Sie sollen alle kämpfen bis zum Ende."

Tante Martha runzelte die Stirn und Herr Schmidt fügte hinzu: „Aber Anton ist ein kluger Junge. Er wird alles tun, was er tun muss, um zu überleben. Möge er bloß nicht in Gefangenschaft geraten." Damit drehte er sich wieder um und ging. Die Tischrunde verstummte. Nur der kleine Junge auf Frau Köhlers Schoß gab ein zufriedenes Quietschen von sich, als er sein letztes Löffelchen Brei herunterschluckte.

Luises Tagebuch - Meine Welt in TrümmernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt