Samstag, 3. März 1945
Martin erwartete mich auf dem Hinterhof eines kleinen Kinos. Wir ändern unseren Treffpunkt jedes Mal, trotzdem habe ich immer wieder Angst, dass ich direkt in die Arme der Gestapo laufe. Mit klopfendem Herzen bog ich in den Hof ein. Außer ein paar Mülltonnen war er leer und die Häuserwände, die ihn eingrenzten, waren fensterlos. Es schien, dass wir unbeobachtet waren, aber man konnte nie wissen.
Martin beugte sich herab und küsste mich auf die Wange - natürlich nur, um den Schein zu wahren.
„Heute ohne deine Freunde?", fragte er und wirkte erfreut.
Ich nickte. Wir brachten rasch den gewohnten Austausch hinter uns. Der Cognac und die Zigaretten wanderten aus meiner Umhängetasche in Martins Rucksack, während er mir neue Lebensmittelmarken zusteckte.
„Du erinnerst dich doch an Anton. Den Jungen mit der Taschenuhr?", fragte ich danach.
Er nickte.
„Hast du die Uhr schon weiter verkauft?"
„Noch nicht."
Ich atmete erleichtert auf. „Kann ich sie zurücktauschen?"
Er hob erstaunt die Brauen. „Was willst du denn damit?"
„Ich möchte sie ihm wiedergeben. Sie gehörte seinem Vater, weißt du? Ich habe Tauschsachen dabei." Hastig griff ich in meine Jackentasche, nicht ohne mich vorher noch einmal umgeschaut zu haben, und zog die Brosche hervor. „Die ist garantiert so viel wert wie die Uhr."
Martin drehte das Schmuckstück in seinen Fingern, dann gab er es mir zurück. „Tut mir leid", sagte er. „Ich habe sie schon jemandem versprochen."
Ich ließ enttäuscht die Schultern sinken, wollte aber noch nicht aufgeben. „Vielleicht nimmt derjenige stattdessen auch die Brosche", sagte ich.
Martin schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich."
Ich schaute ihn flehend an. Er hatte immer gesagt, meinen blauen Augen könnte er nicht widerstehen. „Es ist wichtig für mich. Bitte!"
„Du magst diesen Anton", stellte er fest und seine Miene war unergründlich.
„Er ist ein alter Freund." Ich merkte, wie meine Wangen sich erhitzten. „Bitte!", wiederholte ich.
„Ich habe sie nicht dabei", sagte Martin nach kurzem Schweigen. „Aber ... Wenn du mitkommst, könnte ich sie dir geben. Ich wohne hier ganz in der Nähe."Zu Martin nach Hause? Der Gedanke erzeugte ein mulmiges Gefühl in meiner Magengrube. Doch bei der Vorstellung, wie Anton mich ansehen würde, wenn ich ihm die Uhr zurückgab, schlug ich alle Vorsicht in den Wind. Ich ergriff Martins Arm und ließ mich von ihm aus dem Hof führen.
„Nur ein paar Blöcke weiter", versicherte er mir.
Es war kein schönes Wohnviertel. Hässliche graue Mietskasernen säumten die Straßen. Die Leute, denen wir begegneten, trugen zerschlissene Kleidung und eilten mit verbissenen Gesichtern an mir vorbei. Auch hier gab es einige Bombenschäden, aber es war nicht vergleichbar mit der Zerstörung in der Innenstadt.
Martin hielt vor einem Haus an, das ebenso trostlos und abgerissen wirkte wie alles in dieser Gegend. An manchen Stellen bröckelte der Putz von den Wänden und legte das Mauerwerk frei.
Hier wohnst du?, hätte ich ihn beinahe gefragt, doch im letzten Moment hielt ich mich zurück. Wo sollte er auch sonst bleiben? Mit einem Arm Arbeit zu finden konnte nicht leicht sein. Und vom Invalidengeld kann man sich keine Villa leisten ...„Wohnst du allein hier?", fragte ich stattdessen, während wir die knarzenden Holzstufen hochkletterten.
„Mit einem Kameraden", erwiderte er. Er schloss die Tür auf und ließ mich eintreten. „Entschuldige die Unordnung, ist halt 'ne Junggesellenbude."
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Luises Tagebuch - Meine Welt in Trümmern
Historische RomaneLeipzig, 1944: Das letzte Jahr des Krieges ist angebrochen und auch an der „Heimatfront" werden die Nahrungsmittel knapper und die Luftangriffe häufiger. Luise Hofmann ist 15 und seit Jahren treues BDM-Mädel. Doch je weiter der Krieg voranschreitet...