Kapitel 2 - Skylla und Charybdis

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Kapitel 2 - Skylla und Charybdis

02. Mai 1998, kurz nach Mitternacht, Hogwarts

Er war in Trance, wie diese winzigen Segelboote, die sein Großvater gern in Flaschen gezwängt hat. Kein Geräusch drang zu ihm durch. Seine Umgebung nahm er zwar wahr, sein Gehirn konnte aber mit den gesammelten Informationen nichts anfangen. Daher wurde alles in einen internen Papierkorb verschoben. Die Außenwelt war ihm momentan viel zu rasant und viel zu abgedreht. Da blieb er lieber in seiner eigenen Flasche. Er stand im Flur, im siebten Stockwerk, vor dem Raum der Wünsche. Erschöpft lehnte er sich an das Mauerwerk des Schlosses. Gregory Goyle kniete neben ihm, der Ohnmacht nah und blass wie ein Geist. Vincent Crabbe. Gestorben in einem Feuer, das er entzündet hatte. Crabbe war ein Schüler gewesen, den er äußerst selten mit einem Buch in der Hand gesehen hatte. Nicht mal zum Hausaufgabenmachen oder während der Prüfungsphase hatte er ihn in der Bibliothek angetroffen. Nie hätte er gedacht, dass der lernfaule Crabbe zu einem solchen Zauber wie den des Dämonsfeuers fähig war.

Seinen Tod hatte er selbst verschuldet, während andere hinterrücks von einem Fluch getroffen worden sind. Mit ihm war er seit der ersten Klasse befreundet oder besser gesagt verbündet gewesen. Auch das unterschied ihn. Unzählige Leichen hatte Draco heute gesehen. Bei keiner Person hatte er sich über deren Tod gefreut. Diese Emotionslosigkeit würde ihm von einem Todesser als Schwäche ausgelegt werden. Im Grunde aber war es nur fehlendes Engagement. Traurigkeit hatte er aber ebenso wenig verspürt. Sollte ihm dies zu denken geben? Er war und blieb ein verdammter Todesser. Was scherten ihn die Idioten, die hier einen Aufstand probten? Er stand auf der Seite des Gegners ...

Dann hatte er zwei Hexen gesehen, aus der Ferne, Mutter und Tochter. Die eine trauerte, die andere war starr. Er hatte sich an seine eigene Mutter erinnert. Je mehr er versuchte, den Gedanken zu vertreiben, desto größer wurde die Furcht. Je mehr er sich sagte, dass er keine Angst haben musste, desto lächerlicher kam er sich vor. Er war besorgt.

„Draco!" Astoria Greengrass, eine Slytherin aus der fünften Stufe, rannte auf ihn zu. „Gut, du lebst!", stieß sie aus. Erleichtert fiel sie ihm in die Arme. Im letzten Jahr waren sie sich nähergekommen. Sie hatten sich oft unterhalten, über beinahe alles. Trotz ihres Alters war sie eine hervorragende Gesprächspartnerin und Zuhörerin gewesen. Kämpfen war nicht ihr Metier. Direkten Auseinandersetzungen und vor allem Konflikten ging sie aus dem Weg.

Draco verstand die Welt absolut nicht mehr. Sie sollte eigentlich nicht hier sein. „Ich dachte, du hättest mit den restlichen Slytherins das Schloss verlassen."

„Ja. Nein. Zuerst", stammelte sie. „Zuerst- dann bin ich umgekehrt und zurückgekommen.-"

„Astoria! Das hier ist kein Spiel! Es ist gefährlich." Er schob sie von sich weg, sodass eine Armeslänge zwischen ihnen passte. Er hielt ihre beiden Handgelenke umklammert, um sie eingehend zu mustern. Sie hatte keinerlei Verletzungen, nicht den kleinsten Kratzer. Ihr Haar war zerzaust. Sie sah müde und ausgelaugt aus. Ihre Wangen waren vom Weinen gerötet.

„Aua- lass los. Du tust mir weh! Ich weiß, dass ich hier nicht hätte herkommen sollen." Er lockerte seinen Griff ein bisschen.

„Aber ich musste. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht", flehte sie.

„Unnötig. Mir geht's gut", knurrte er. Eine Lüge, um der sich beide bewusst waren.

„Ich bitte dich, Draco- kannst du bitte mit mir kommen und mich beschützen. Ich will hier wieder weg."

„Du hast dich in Gefahr gebracht, nur um mich zu sehen? Unnötigerweise." Der Gedanke daran ließ ihn schummrig werden. Er hatte ihre irre Fürsorge gar nicht gewollt. Sie setzte einfach ihr Leben aufs Spiel, um sich ihm aufzudrängen.

Moral und Wahnsinn - In der Gegenwart meiner FeindeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt