Kapitel 33 - Kartharsis

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Als Lucius in den Gemeinschaftsraum hinunterkam, musste er feststellen, dass nur eine weitere Person anwesend war. Dabei war er nicht wirklich früh aufgestanden, es war schon nach neun Uhr. Er hoffte darauf, dass die anderen oder wenigstens Potter bald nachkommen würden, denn er wollte so wenig Zeit wie möglich allein mit Hermine verbringen. Diese saß zurechtgemacht auf einem der rot-goldenen Sofas. Hochkonzentriert blätterte sie in einem Buch, bevor sie dieses auf den Bücherstapel, der sich auf dem niedrigen Couchtisch gebildet hatte, legte.

Ächzend ließ er sich im ausgesessenen Sessel nieder und beobachtete sie. „So früh schon in der Bibliothek gewesen?" Eine dämliche Frage, die Antwort war offensichtlich. „Ich wollte noch einmal an das Gespräch über die Aufrichtigkeit anknüpfen", kündigte er ihr an.

Hermine hob die Augenbrauen. Sie sah ihn an, als könne sie nicht glauben, dass er es wagte. Doch es hatte ihm schwer im Magen gelegen.

„Ich war ein Gefangener meiner Vorurteile", begann er und beobachtete, wie sich Verwunderung in ihrem Gesicht bereitmachte. Gespannt klappte sie das Buch zu, aber behielt es in den Händen. „Du bist jung und zwischen uns bestand eine gewisse Antipathie, sodass ich deine Worte als überzogen abgeschmettert habe. In der Nacht hatte ich Zeit, darüber ausführlich nachzudenken."

Unwissend wohl, wie sie reagieren sollte, klappte sie das Buch wieder auf und fühlte mit den Fingern das raue Papier. Doch sie schwieg und ließ ihn weiter nach Worten ringen.

„Du hast mich durchschaut." Die Worte fielen wie Schüsse. Nun konnte er sie nicht mehr zurücknehmen, er konnte sie nur noch bei Bedarf leugnen. Die ganze Nacht hatte er über ihre garstigen Vorwürfe nachgedacht und sich geärgert. Er war zornig gewesen, dass sie so mit ihm gesprochen hatte und wütend, weil er für einen Moment gedacht hatte, sie habe recht. Er sei selbst schuld an seiner Misere. Dabei hatte er sich den Großteil seines Lebens nicht einmal einsam gefühlt. Nichts hatte er falsch gemacht. Das Streben nach Einfluss war etwas Natürliches, jeder sah sich danach um. Dass er diesbezüglich talentierter war als die meisten ... – dass er durch seine Einfühlsamkeit schnell wusste, was er jemandem versprechen musste, um zu bekommen, was er wollte, konnte er sich nicht vorwerfen lassen.

Hermine legte das Buch zur Seite.

Er lehnte sich zurück, fluchte innerlich und rückte mit dem Sessel näher an sie heran. „Ich kann nicht versprechen, dass ich mich ändern werde. Selbst wenn ich das tun würde, hättest du daran deine Zweifel ... – Deine berechtigten Zweifel." Er kam nicht umhin, Hermine auch zu bewundern. Sie war eine der wenigen, die sein Schauspiel durchschaut hatten. „Gestern habe ich dich für deine Ehrlichkeit verflucht." Sein erster Instinkt war es gewesen, sie zu meiden oder gar gegen sie zu intrigieren, sobald sich die Gelegenheit dafür bieten wollte. Doch da hatte er gemerkt, dass sein Zorn kein Zorn war, sondern Schmerz. „Ich denke immer noch, dass du aus einer hohen, idealistischen Position zu mir gesprochen hast, aber mit der Quintessenz hattest du nicht Unrecht."

„Was war denn die Quintessenz meiner Worte?", wollte sie prüfend wissen.

Er schluckte und beugte sich nach vorn, doch von der plötzlichen Nähe waren beide irritiert. Hermine hatte Recht gehabt, in allem, was sie ihm aufgezeigt hatte. Er war stur seinen Weg gegangen. Er hatte sich so verhalten, dass es auf Außenstehende egoistisch erscheinen musste. Das erst hatte ihn in diese Zwickmühle geführt. „Dass ich nicht berechnend mit meinen Mitmenschen umgehen und weniger auf meinem eigenen Vorteil bedacht sein sollte."

Sie nickte, wich aber seinem Blick aus.

„Und dass ich ziemlich einsam deswegen geworden bin." Wenn er wieder weiterkommen wollte, dann war er auf Verbündete angewiesen. Doch momentan hatte niemand ein Interesse daran, für ihn ein gutes Wort einzulegen. Er war ein Todesser.

„Ich muss mich auch bei dir entschuldigen", flüsterte sie. Es war offensichtlich, dass sie sich überwinden musste. „Du strebst nach Einfluss und dein Verhalten finde ich scheinheilig. Wenn ich aber ehrlich bin ... – Wer weiß, wie ich mich verhalten würde, würdest du die Dinge zu meinem Besten manipulieren."

Kaum einer würde ihm so viel Einfluss wie sie verschaffen können. Was noch wichtiger war: Sie handelte rational, basierend auf ihrem Verstand. Er musste alles auf eine Karte setzen und versuchen, die Kluft, die zwischen ihnen bestand, zu überbrücken. Nicht nur zum Schein, sondern wirklich.

„Aber ich sollte es nicht gutheißen", fügte sie harsch an.

„Ich verstehe." Wenn er an die Gespräche mit Hermine zurückdachte, waren diese nervenaufreibend und im höchsten Maße fordernd gewesen. Doch er musste einsehen, dass das nicht nur an ihr lag. Es hatten sich zwei gefunden. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich ab jetzt von Grund auf ehrlich zu dir sein werde. Kein Schmeicheln mehr, keine berechnenden Handlungen."

Sie kaute auf ihren Lippen. „Dann fangen wir gleich an. Was erhoffst du dir davon?"

Er schluckte, auch wenn die Frage wenig überraschend war. „Die Erfüllung einer Notwendigkeit. Ich werde wohl oder übel mit dir auskommen müssen. Zu den Todessern kann ich nicht zurück und der Rest des Ordens ist mir nicht wohl gesonnen."

„Und du glaubst nicht, die anderen bezirzen zu können? Du umgarnst lieber mich?"

Bei solcher Überheblichkeit hätte Lucius beinahe gegrinst, doch er biss sich auf die Zunge. „Die anderen sind viel zu emotional. Ich kann keine Wunder wirken. Du hörst stark auf deinen Verstand, dass es mir am möglichsten erschien."

Sie schnaufte abfällig und betrachtete ihn grimmig. „Da hast du dich geschnitten." Ihr Blick glitt über sein Gesicht bis zu seinen Händen, die ruhig seinen Gehstock, den er sich über seine Beine gelegt hatte, drehten. Sie errötete und widmete sich wieder ihrem Buch.

Erst jetzt merkte Lucius, dass er lächelte.

„Warum hast du all die Jahre Vol-... Ihn, dessen Name nicht genannt werden darf, unterstützt?"

Er seufzte. Schon war der Moment vorbei. „Die Antwort wird dich nicht erfreuen."

„Damit rechne ich auch nicht. Sag, warum willst du Muggelstämmige verfolgt sehen? Warum willst du sie umbringen?" Ihre Hände verkrampften sich und unter ihrer Haut schien es zu kochen.

Lucius wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab. Er schüttelte verlegen mit dem Kopf. „Ich habe nie einen Menschen umgebracht. Vor den meisten Morden, Raubzügen und Folterungen bin ich durch die gute Stellung meiner Familie bewahrt worden. Ich war eher der Schreibtischtäter ... gewesen."

Wütend ließ Hermine das Buch zuschnappen und warf es lieblos auf den Bücherstapel, der mit Grollen umfiel. „Wage es ja nicht, deine Taten kleinzureden!"

Reflexartig griff Lucius seinen Zauberstab. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber mit einem solchen Wutausbruch? Anscheinend war er geradewegs in ein Minenfeld gelaufen? In Gedanken schollt er sich als Idioten. Gern sah er sich selbst als Diplomat, momentan glich er aber eher einem Elefanten im Porzellanladen. Dabei hatte er doch endlich auf Hermines guter Seite landen wollen.

Beschwichtigend hob er die Arme und wollte einen Persilschein nachschieben, doch Hermine war schneller: „Es ändert nichts daran, dass du die Grausamkeit der anderen Todesser geduldet hast. Nein, du hast sie sogar unterstützt und gefördert." Wehleidig und ein wenig über sich selbst erschrocken, blickte sie dem Buch hinterher. „Das ist unverzeihlich..."

„Ich weiß."

Verwundert sah sie dann doch zu ihm hoch. „Ich dachte jetzt, du würdest meine Zweifel und meinen Unwillen wegdiskutieren versuchen ..." Schmerzvoll verzog Hermine das Gesicht. „Aber ... – Du musst doch ... – Ich weiß nicht ... – Was willst du eigentlich von mir? Warum behelligst du mich überhaupt damit?"

Lucius zuckte zusammen. „Du hast doch gefragt?"

„Wie konntest du die Reinblutideologie vertreten?", warf sie ihm vor.

Lucius starrte auf seine Hände und sagte nichts.

In diesem Moment kam Dennis Creevey herein. Er sah aufgeregt und erleichtert aus, sie hier zu sehen. „Hermine!" Mehrmals wiederholte er ihren Namen und hielt verwirrt inne, als er Lucius als ihren leidenschaftlichen Diskussionspartner identifizierte. Nach einem Augenblick hatte er sich wieder gefangen. „Ich bin heute einem Mann in der Winkelgasse begegnet, der mit dir reden möchte. Er hat wohl eine Bedienungsanleitung, die er dir überlassen möchte. Es war ein komischer Kauz ... – zugegebenermaßen ..."

Hermine sprang auf. „Tomasz?"

„Äh, ja?" Dennis musterte sie eindringlich. „Du kannst damit was anfangen?"

Sie nickte energisch.

Dennis war noch verwirrter als zuvor. „Von was für einer Bedienungsanleitung hat er denn gesprochen? Er wollte mir die Nachfrage nicht beantworten."

„Äh ... – Es ging um einen Handstaubsauger, alles gut. Er ist eben ein komischer Kauz ..."

Augenblicklich hatte Dennis das Interesse verloren. „Gut, dann geh ich jetzt frühstücken." Mit einem letzten Blick auf Lucius dackelte er davon.

Hermine sah ihm hinterher und wartete, bis er außer Hörweite war. „Wenn du nicht antworten möchtest, dann denke ich mir meinen Teil."

„Es ist nicht so, wie du denkst, aber es ist nicht einfach." Es war wirklich kompliziert. „Ich bin damit aufgewachsen. Ich habe sie meinem Sohn angedeihen lassen."

„Oh, ja! Und nicht zu wenig!"

„Ich habe sie nie hinterfragt. Zum einen, weil man Leute, die einem sagen, man sei etwas Besonderes, nicht in Frage stellt und zum anderen, weil schon etwas Wahres dran ist."

Ihr pfiffen die Ohren. „Wie kannst du das behaupten? Ich bin eine der talentiertesten Hexen, meine ZAG-Ergebnisse weisen kein einziges E oder schlechter auf und meine Eltern waren Muggel!"

„Das meine ich nicht!", beeilte sich Lucius. „Du bist die Ausnahme! Viele Muggelgeborene lernen langsamer als du und halten die anderen Schüler auf, weil man bei ihnen von Null anfangen muss. Ihnen fehlt das Grundverständnis für Magie, das sie sich erst mühevoll erarbeiten müssen. Du hast doch deine Nase immer zwischen Buchseiten gehabt, nicht?"

„Deswegen unterstützt du ihre Verfolgung? Weil sie zu langsam lernen?", fragte sie mit zynischer Stimme.

„Das ist noch nicht alles. Durch die Muggelgeborenen und ihren Familien lernen immer mehr Muggel von der Existenz der Zaubererwelt. Die Mund-zu-Mund-Weitergabe ist schwer zu unterbinden und auch viele Eltern sind nicht erfreut, wenn sich ihr Kind als Magier entpuppt. Die meisten Großeinsätze der Vergiss-mich werden durch die Unvorsichtigkeit eines Muggelstämmigen ausgelöst. Viele von ihnen ziehen sich mit Verbitterung wieder aus der Zaubererwelt zurück."

„Weil wir in der Zaubererwelt benachteiligt werden!", rief Hermine.

„Weil es nicht euer Platz ist. Ihr wurdet in eine andere Welt geboren. Ihr kommt in unsere und spielt euch auf, als hätte ihr alles erschaffen. Als gehöre euch alles. Ihr habt noch eine zweite Welt, in die ihr euch nach Belieben zurückziehen könnt, aber ihr wollt unbedingt die unsere."

Hermine schnaufte. Sie hatte keine Zeit für so etwas. Seine Ideologie war nur ein Nebenkriegsschauplatz, der bis zum Fall Voldemorts eine untergeordnete Rolle spielen konnte. „Wir werden keine Freunde."

Lucius ergab sich. „Es ist Politik. Wärst du bereit, über unsere unterschiedlichen Ansichten hinwegzusehen?"

„Wofür?"

„Um die Maschine zusammenzubauen ... – Um Draco, Ron und all die anderen zu finden ... – Um den dunklen Lord zu besiegen. Wir sind ein gutes Team und ich würde mich geehrt fühlen, nach all diesem wieder mit dir über die Selbstwahrnehmung der Reinblüter zu diskutieren."

„Hm." Hermine reichte ihm die Hand und zog ihm aus dem Sessel hoch. „In Ordnung. Wir haben noch eine Menge zu erledigen. Tomasz wartet mit der Bedienungsanleitung." Voller Vorfreude rieb sie sich die Hände. „Dann reden wir später über die Stellung von Muggelstämmigen wie mir."

„Muggelstämmig ist wirklich nicht die korrekte Bezeichnung für dich. Wir wissen beide, welches Wort auf Menschen wie dich besser zutrifft."

„Wie bitte?", fragte Hermine alarmiert. Dieser Angriff kam aus dem Blauen für sie.

Er lächelte verwegen und sie konnte seine Gesichtszüge nur fasziniert beobachten. „Du hast schon gehört, was ich gesagt habe." Er deutete zu den Bücherhaufen. „Das Wort ist ‚Streber'."

Moral und Wahnsinn - In der Gegenwart meiner FeindeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt