32. „Also kriegt hier niemand ein Happy End?"

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... oder „Ich würde den Ort hier gern anzünden und bis auf die Grundmauern niederbrennen."
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„Hast du Erkundigungen eingeholt?" Mit durchgestrecktem Rücken stand Liv vor ihrem Erzeuger und sah ihn aufmerksam an.

Bemüht um einen neutralen Ton antwortete sie knapp. „Selbstverständlich, so wie du es wolltest."

„Und?" Es war ihr zuwider gewesen ihn um Hilfe zu bitten, aber da sie nicht ihr Leben lang auf die Aufgaben des Seelenfängers vorbereitet worden war, benötigte sie nach der Machtübergabe vorerst noch seine Hilfe.

„Derzeit gehen wir von drei weiteren Maulwürfen aus, die den Engeln auf die ein oder andere Art Informationen zutragen", gab Abbadon an. Er würde sich niemals verzeihen, dass er das nicht hatte kommen sehen; dass er seinen Sohn nicht hatte davon abhalten können eine derart unheilige Allianz einzugehen.

Liv nickte. Es würden weit mehr als das sein, aber das würde erst die Zeit zeigen. Sie musste geduldig sein.

„Begleite mich ein Stück durch den Garten." Auffordernd sah Abbadon sie an. Obwohl Liv sich am liebsten trotzig verhalten hätte, war sie doch neugierig. Und sie musste zugeben, dass sie Abbadon mochte und ihn gern näher kennenlernen wollte.

„Ich bekomme mein Happy End oder?" Leise Hoffnung schwang in Livs Stimme mit. Sie würden die Verräter identifizieren und bestrafen, sie würde mit den Engeln einen gemeinsamen Weg finden, sie und Jasper würden gemeinsam jeden Stein aus dem Weg räumen, den man ihnen hinwarf.

Abbadon seufzte resigniert. „Nein, nicht unbedingt."

„Aber du bekommst das deine?" Ihre Verbitterung war deutlich zu hören, doch es störte sie nicht. Sollte er ruhig wissen, was er ihr angetan hatte. Er würde eine Lebenszeit als Mensch verbringen, eine echte Chance auf eine echte Familie bekommen.

„Nein, nicht unbedingt." Die Voraussetzung war natürlich, dass Namrael ihm verzieh. Liv kannte beide nicht gut genug, um die Wahrscheinlichkeit dafür abzuschätzen. Und wessen Schuld war das?

Fragend sah sie den Dämon an, der ihr Vater sein sollte. Sie dachte an ihren echten Vater, den Mann, der sie aufgezogen hatte, der ihr beigebracht hatte die Schuh zuzubinden, Fahrrad zu fahren und mit Messer und Gabel zu essen.
Genervt stieß sie die Luft aus. „Also kriegt hier niemand ein Happy End? Das stinkt doch."

Abbadon schmunzelte. „Ja, das stinkt."

Schweigend liefen sie nebeneinander den gewundenen Pfad entlang, der durch den sorgfältig angelegten Garten führte. Der flüchtige Geruch des Lavendels links und rechts des Weges begleitete ihre Schritte.

„Bereust du es?" Sie sah ihn nicht an, wollte, dass er log.

Abbadon seufzte vernehmlich. „Bereue ich es mein kleines Mädchen weggegeben zu haben? Bereue ich es deine Mutter belogen zu haben? Sie im Glauben gelassen zu haben, dass du tot bist? Bereue ich die Kette von Entscheidungen, die letztlich zu Fenix Tod geführt haben?" Er rieb sich über das Gesicht.
„Ich weiß, was du hören willst, Tochter. Und ich wünschte, dass ich es dir geben könnte. Aber nein," er seufzte, „nein, ich bereue es nicht."

In Liv tobte ein Sturm von Gefühlen. Sie wusste nicht, was sie hatte hören wollen: wäre es besser, er bereute seine Entscheidungen? Das würde sie nicht rückgängig machen. Hieß, dass er nicht bereute, dass er zufrieden mit dem Ergebnis war?

„Du hast mich weggegeben, du wolltest mich nicht", warf sie ihm trotzig entgegen.

Abbadon blieb stehen. „Liv." Der unnachgiebige Ton in seiner Stimme veranlasste sie stehen zu bleiben. Spöttisch zog sie eine Braue hoch und wandte sich ihm zu.
„Ja, Abbadon."

„Denkst du das wirklich? Dass ich dich nicht wollte?"

Liv sah zu Boden. Der allzu menschliche Schmerz im Gesicht des ehemaligen Dämons störte sie. Sie wollte ihm böse sein, ihn hassen, weil er ihr ihre richtige Familie verwehrt hatte. Ihre innere Stimme schrie sie entrüstet an, dass sie ein undankbares Miststück sei, das ihre Adoptiveltern nicht verdient habe.

Liv schob das schlechte Gewissen gegenüber Soraya und Ben beiseite und konzentrierte sich auf die Wut auf ihren leiblichen Vater. Davon hatte sie reichlich in sich.

„Natürlich wolltest du mich nicht. Wieso solltest du sonst einen kriegerischen, blutrünstigen, überaus egozentrischen Dämon mit Gott-Komplex zum Babysitter bestimmen, der eine übermenschlich große Aversion dagegen hat sich selbst zu beschäftigen und bei Langeweile mürrisch wird? Diesem Musterbeispiel für einen herausragend bescheidenen Babysitter gibst du mich mit und  bittest ihn mich zu Menschen zu bringen?" Jasper möge ihr verzeihen.

Traurig schüttelte Abbadon den Kopf. „Liv, du warst," er räusperte sich, „bist das Schönste und das Schlimmste, was mir passieren konnte." Während er sprach streckte er seine Hand nach ihr aus und wollte ihr über die Wange streicheln, stoppte aber kurz vorher und ließ den Arm wieder sinken.

„Tausende von Jahren waren wir ohne Kind. Tausende von Jahren verwehrte ich meiner Frau, der Liebe meines Leben, ein Kind. Tausende Male sagte ich nein." Er schluckte hart in der Erinnerung an die Tränen, die Wut und die Verzweiflung Namraels.
„Als ihr Wunsch nach einem Kind übermächtig wurde und ich nachgab, wusste ich, was ich unserem Kind antun würde, sobald es das Alter erreicht hätte. Jahrtausende habe ich mich gewehrt, die Bürde des Seelenfängers weiterzugeben. Ich hatte mir geschworen niemanden - und schon garnicht mein Kind - damit zu belasten." Unverwandt sah er sie an. „Als Namrael mir sagte, dass sie Zwillinge gebären würde, war das ein Geschenk. Ich würde beides haben können. Ein Kind, welches das Erbe anträte und eines, das in Frieden leben würde, unbeachtet von allem Schrecken, von der Bürde, die mein Leben für es bereithielt."

Liv ging weiter, ohne darauf zu achten, ob Abbadon ihr folgen würde. Sie dachte über das Gesagte nach, versuchte die Lüge hinter seinen Worten aufzudecken, zu sehen, ob ihr noch mehr vorenthalten wurde. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr nicht alles sagte.

Abbadon folgte seiner Tochter schweigend. Auf ihrem Gesicht konnte er eine Vielzahl von Gefühlen vorbeihuschen sehen. Er selbst war hin und her gerissen zwischen sehnsüchtiger Erwartung ihrer Entscheidung und Angst vor dieser, falls sie ihn aus ihrem unsterblichen Leben streichen würde.

„Fein."

„Wie bitte?" Er hatte leider keine Ahnung, was das bedeuten sollte und Liv verdrehte die Augen. Eine ganz normale Vater-Tochter-Beziehung, wenn er seinen menschlichen Freunden Glauben schenkte.

„Fein, wir können es versuchen."

„Als Familie?" Sie verzog das Gesicht. „Fürs erste vielleicht als entfernte Verwandte."

Abbadon lächelte. Schweigend gingen sie weiter.

„Was möchtest du jetzt tun?" Abbadon sah sie aufmerksam an und ihre Antwort kam prompt. 

„Ich würde den Ort hier gern anzünden und bis auf die Grundmauern niederbrennen." Schulterzuckend und mit Hass im Blick musterte sie die alte Villa. Hier hatte sie alles verloren. Ihre Unschuld. Ihre Menschlichkeit.

„Der Ort hier steht seit hunderten Jahren und ist nahezu vollständig aus Stein. Ich glaube also, du solltest dir was Erfolgversprechenderes suchen", spöttisch grinsend legte Abbadon seinen Arm um ihre Schultern. Für einen Augenblick befürchtete er, dass sie ihn von sich stoßen würde. Aber nichts dergleichen geschah.

Livs Stimme triefte vor Sarkasmus, als sie antwortete. „Aber es auszuprobieren, würde mich wirklich glücklich machen, Daddy." Weil sie das Haus, in dem sie ihren Bruder getötet hatte, bevor sie die Chance bekommen sollte ihn als solchen kennen zu lernen, böse anfunkelte, sah sie nicht, wie Abbadon bei der Anrede zusammenzuckte.
Es schmerzte ihn zu wissen, dass er niemals das für sie sein würde, was sie für ihn war. Familie.

Guardian DemonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt