Taehyung
Ein ruhiger Morgen liegt hinter mir, den ich zusammen mit Titus und einer warmen Tasse Tee verbracht habe. Inzwischen sitze ich auf mein Motorrad und nähere mich der Einfahrt zum Anwesen. Der Himmel ist wolkenverhangen, die Sonne nicht zu sehen. Es wird bald regnen.
Nach einem letzten Schulterblick biege ich in die Privatstraße ein. Meine Gedanken kreiseln sich um nichts Bedeutendes. Ich genieße einzig meine freie Zeit.Der Motor meines Gefährts verstummt, als ich es abstelle und anschließend absteige. Erst, als ich den Helm vom Kopf ziehe, erkenne ich einige weitere Angestellte der Familie über den Innenhof rennen. Sie wirken alle nervös, beinahe schon hektisch.
Ist ein Tier entwischt?
Mir nichts weiter dabei denkend, beginne ich meinen Arbeitstag und trete auf die Tür des Seiteneingangs zu.
„Hr. Kim! Da sind Sie ja!"
Überrascht springe ich einen Satz nach hinten. Kaum habe ich die Tür geöffnet, rennt mir förmlich einer der Stalljungen entgegen, den ich in den vergangenen Monaten schon öfters bei der Arbeit von dem Wohnzimmer aus beobachten konnte. Jungkook schlief derweil auf der Couch oder suchte nach einem weiteren Brettspiel.
„Bitte? Wieso...", entgegne ich verblüfft. Der Schreck steht mir noch ins Gesicht geschrieben.
„Wir haben Sie versucht zu erreichen, doch Sie gingen nicht an ihr Handy", erklärt er sich, die Sorge zwischen den Worten. „Es geht um den jungen Herrn. E-er hatte wieder einen seiner—"
Der Junge muss nicht weitersprechen, damit ich verstehe, was oder besser wer die Unruhe an diesem Morgen verursacht hat. Ich stürme an dem Bursche vorbei, den Flur entlang bis in die Eingangshalle, der eindrucksvolle, verdeckte Spiegel beobachtet mich und thront derweil an der Wand wie ein Mahnmal. Mein Weg führt die Treppe herauf, vorbei an der Küche — die vergangenen Tage ist dieser Raum einzig von Lachen gefüllt gewesen — dem Zimmer, dessen zerkratzte Tür mich noch immer vor Rätsel stellt. Das Rennen endet vor der verschlossenen Zimmertür, gekennzeichnet mit dem Namen meines Patienten.
„Jungkook."
Vieles schwirrt derweil durch meinen Kopf. Gedanken, die ich zuvor unterdrückt habe, stürzen nun über mich herein. Mein schlechtes Gewissen, dass ich ihn einfach so in der Waschküche zurückgelassen habe oder sein Medikament ausgetauscht habe — was habe ich mir bloß dabei gedacht?
Ich bin kein Arzt, verdammt!
„Jungkook! Mach' bitte die Tür auf. Ich bin es, Taehyung."
Nah trete ich an das Holz und lehne ebenfalls mein Ohr daran, um hoffentlich eine Antwort des Jüngeren auf der anderen Seite zu erkennen. Vielleicht ist er noch nicht ganz in seiner Panik verloren.
Schluchzen.
Kaum erkenne ich das bittere Weinen meines Schützlings — er hat doch schon so lange nicht mehr geweint — sinke ich vor der Tür zu Boden. Meine Stirn lehnt an der glatten Oberfläche. Die Sicht vor meinen Augen verschwimmt. Ich muss mich stark zusammenhalten.
Wer weiß, ob die Berichte über dieses Medikament überhaupt gestimmt haben. Was ist, wenn ich nun noch größeren Schaden angerichtet habe, als ohnehin schon?
„Es tut mir leid, Jungkook", flüstere ich und schaue zu Boden, andernfalls würden sich meine Tränen zeigen.
„Ich habe mir wieder einmal selbst im Weg gestanden... Und habe wieder jemanden damit verletzt."
Das habe ich wohl verdient.
Müde setzte ich mich um, sodass ich mit dem Rücken am festen Holz lehne. Ich bin zu erschöpft, um weiterzumachen. Nie hätte ich gedacht, dass diese Arbeit derart kräftezehrend werden könnte.
Ob es wieder ein Versprechen sein wird, das ich nicht halten kann?
„T-Tae?"
Hellhörig lausche ich den Worten, gebrochen durch Wimmern und Schluchzen. Beinahe kann ich den Tränen dabei zuhören, wie sie zu Boden fallen.
Das ist wieder einmal meine Schuld.„Ich bin da, Jungkook. Ich bin für dich da. Du bist nicht allein, hörst du?"
Wie fremdgesteuert, spreche ich das, was der Jüngere in diesem Moment hören muss. Selten habe ich mich so hilflos im Kampf gegen seine Krankheit gefühlt. Habe ich wirklich gedacht, mit etwas Überzeugung und Charme würde ich diesen Jungen heilen können?
Gott, wie dumm ich doch war — bin.
„E-Es war da, es war schon wieder da, Tae", weint er. Die Stimme ist nahe, also muss er auf der anderen Seite der hölzernen Tür sitzen — kauern — wie ich.
„I-ich weiß, Jungkook. Das ist meine Schuld. Es tut mir so leid."
Er weint und weint und wie gerne würde ich ihn einfach in den Armen halten, ihm durch das zerzauste Haare streichen und ihm erklären, wie wir wieder auf die Beine kommen. Wenn er wüsste, wie müde aber ich bin. Er wäre so enttäuscht.
„Es ist weg. Ich bin hier, alles wird gut." Die Schuld wiegt so unendlich. In dieser Rechnung, mein Versprechen einzuhalten, komme was wolle, habe ich vergessen, dass Menschen eben Menschen sind.
Menschen machen nicht nur Fehler, sie sind auch so unbeschreiblich...
„Aber was dann, wenn du bald auch gehst, Tae? Was dann?"
Auf seine Frage, die er mir unter größter Muhe nicht weiter zu weinen, stellt, weiß ich keine genaue Antwort.
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Mirror Demon | Taekook
Fanfiction„Ich sehe es in jeder erdenklichen Spiegelung, in den Reflexionen der Schaufenster - ja selbst in Pfützen. Es ist immer da, beobachtet mich und lauert. Es wartet nur darauf." ~•~ Nachdem Jungkook von seiner Hochzeit mit einer langjährigen Freundin f...