Taehyung
Am Abend des gleichen Tages ist Ruhe zwischen uns eingekehrt. Mit einem Glas Kirschsaft in der Hand sitze ich auf der so schrecklichen bequemen Couch, währenddessen Jungkook auf das Spielbrett vor uns blickt. Sein Ausdruck verrät, dass mein letzter Schachzug ihn ziemlich in die Ecke gedrängt haben muss. Es ist das erste Mal, dass wir eine Partie spielen. Freudestrahlend ist er zuvor auf mich zugekommen, das Brett samt Figuren in den Händen haltend.
„Taehyung, darf ich dich was' fragen?"
Zustimmend nicke ich und stelle anschließend mein Getränk auf den Tisch. Das Schachbrett befindet sich zwischen uns auf der vermeintlichen stabilen Garnitur.„Ich hoffe, ich trete dir damit nicht zu nahe, aber du weißt bereits vieles über mich. Ich weiß aber gar nichts über dich so wirklich", spricht er zögerlich, einen Springer von mir in der Hand haltend. Hat er sich also doch aus der Gefahr gewunden.
„Oh, also. Naja, da gibts' gar nicht so viel... also, was ich dir erzählen könnte", kratze ich mich verlegen am Hinterkopf.
Darauf ernte ich einen skeptischen Blick seinerseits. Ich bin jetzt am Zug.
„Dass ich 23 Jahre alt bin, weißt du ja."
Er nickt und legt seine Hände entspannt auf seinem Schoß ab.„Aber meinen Geburtstag genau weißt du noch nicht; der ist nämlich am 30.12."
Wartend begutachtet er mich weiter. Mit meiner Antwort scheint er nicht zufrieden zu sein.
„Gibt es was, das du genau wissen willst? Meine Familie? Was ich vorher so gemacht hab'?", frage ich hoffend, dass es das nicht ist. Ein Lächeln bildet sich und er nickt mir bloß zufrieden zu. Diese Vorläge hätte ich ihm nicht geben dürfen.
„Na schön. Ähm... Ich habe eine ältere Schwester, Juri heißt sie, und wir sind beide bei unserer Mutter großgeworden."
Ich rücke eine meiner Figuren, ein einfacher Bauer, den Jungkook fuchsig bereits anvisiert.
„Zu deinem Vater hast du wohl keinen Kontakt, das tut mir leid", entgegnet er und räumt meinen Bauern vom Spielbrett. Die Erinnerung an meinen Vater ist unangenehm. Juri und ich haben ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.„Ich habe eine Katze." Jungkook stoppt in seiner Bewegung, Augen groß und einen überraschten Ausdruck im Gesicht.
„Sein Name ist Titus. Wenn du möchtest, kann ich ihn eines Tages mal mitnehmen. Er ist mir vor über sieben Jahren in der Schule zugelaufen. Er war ein Streuner."
Die Erinnerung an den Tag, an dem ich ein kleines verdecktes Kätzchen hinter den Mülltonnen der Schule gefunden habe, lassen mich seltsam fühlen. Mein Kater ist damals in einem schlechten Zustand gewesen. Danke intensiver Pflege und dem Durchhaltevermögen des kleinen Titus, hat er es schlussendlich geschafft. Was er in diesem Moment wohl gerade macht?„Darüber würde ich mich freuen", lächelt der Jüngere. Er wartet darauf, dass ich den nächsten Zug betätige.
„Ich habe keine Geschwister", entgegnet er mir, als ich gerade dabei bin, seine Spielzüge zu dechiffrieren. Warum ist er nur so gut in Schach? Oder warum bin ich nur so schlecht?
„Ich habe nur Yoongi und Jimin. Die beiden sind wie meine Brüder... Ja, wie meine Brüder." Er greift nach einem Kissen und platziert es vor sich. Ein Schutzschild.
„Eure Kindheit muss doch bestimmt abenteuerlich gewesen sein, oder? Ich kann mir das mit diesen Wettbewerben kaum vorstellen." Meine nächste verdammte Figur ist mein König.
„Wart ihr wirklich auf so Turnieren, wie die im Fernsehen", füge ich an.
Themenwechsel. Ich möchte nämlich nur ungern weiter über mich sprechen. Mir ist das alles noch zu frisch.„Wenn du mir versprichst, nicht die Figuren zu verschieben, hole ich ein altes Fotobuch. Da sind alle meine Erinnerungen darüber drinne." Ich nicke neugierig und verstecke meine Hände demonstrativ hinter meinem Rücken.
„Der Vorfall hat nicht nur die dir bekannten Makel zurückgelassen. Viele Erinnerungen aus meinen Kindheit sind verschwommen oder teils ganz weg. Das Fotobuch müsste aber helfen. Denke ich."
Er läuft auf einer der Bücherregale im hinteren Bereich des Wohnzimmers zu. Aus einer der oberen Reihen zieht er ein Buch in einem blauen Bund hervor. Als er sich wieder zu mir setzt, stehen alle Figuren noch so, wie zuvor.„Unser erstes Turnier war kurz nach Yoongis zehnten Geburtstag. Ich selbst war noch zu klein, aber das hat mich nicht davon abgehalten mitzuhelfen."
Die Fotografie zeigt einen noch sehr kleinen Jungkook, der einem Jungen hilft - für mich schaut er aus wie dieser Yoongi - einen Sattel zu transportieren. Im Hintergrund sitzt ein weiterer Junge mit rosafarbenem Haar, der sich gerade in ein Paar Reitstiefel quält.„Das ist Jimins erster Sieg gewesen. Yoongi hat dort den dritten Platz belegt, während ich wegen einer Erkältung bloß zusehen durfte...", erklärt er und blättert direkt auf die nächste Seite. Einige unserer Schachfiguren sind umgekippt.
„Oh! Der Tag war auch toll. Das ist eines der letzten Turniere, an denen Jimin teilgenommen hat. Ich wurde an diesem Tag zweiter und Yoongi dritter. Da auf dem Bild sind wir alle. Yoongi, ich, Jimin und sein damaliger Freund - jetzt sind sie verlobt - Hobi." Ein lachender und freudiger Haufen Menschen in teuren Reitklamotten ist zu sehen. Der einzige, der sich aus der Menge hebt ist ein schmaler Junge, der ein Poloshirt und dunkle Jeans trägt. Er hat seinen Arm um Jimins Taille gelegt und küsst ihm auf die Wange. Alle von ihnen lachen und grinsen.
„Hobi wirst du hoffentlich auch bald kennenlernen, wie Jimin natürlich auch. Das Auslandsjahr von Hobi ist sehr bald zu Ende..." Er hält in seiner Erklärung inne. Sein Blick wird leer.
„Alles in Ordnung." Nun bin ich etwas besorgt.„Was? Ja, alles gut. Wenn Hobi bald wiederkommt, dann ist dieser Tag da schon so lange her. Die Zeit fliegt." Er schlägt das Buch wieder zu. Bedrückt schaut er nun aus. Irgendwie muss ich ihn auf andere Gedanken bringen.
„Also meine Kindheit sah nicht so aus. Ich hab' dafür aber viel Blödsinn mit meiner Schwester fabriziert."
Das ist eine Übertreibung, doch das muss er ja nicht wissen. Juri und ich waren unserer Schule damals als Teufelsduo bekannt. Lehrer fürchteten uns, doch in den Augen mancher Schüler waren wir die Helden.„Heh... meine Schwester. Sie studiert Bankenwesen in Seoul. Sie hat ziemlich was aus sich gemacht." Nicht so wie ich. Sie hat trotz aller Hindernisse ihr Leben nicht einfach laufen lassen. Sie ist schon immer zielstrebiger gewesen als ich. Das bewundere ich.
„Du doch auch."
Verwundert habe ich die Brauen und unvorhergesehen muss ich husten. Wenn er bloß wüsste.
„W-würdest du bitte etwas trinken, Jungkook", fordere ich ihn völlig aus dem Kontext auf, als mein Blick an der Glasamphore auf dem Tisch hängen bleibt, die noch immer völlig unberührt von ihm ist. Teilweise liegen unsere Spielfiguren auf dem Teppich. Sie sind gestürzt.
„Tut mir leid." Der Ausdruck in seinem Gesicht gefällt mir nicht, als er seinen Fehler erkennt. Er hat mir versprochen mehr zu trinken, allgemein auf sich zu achten. Ich versuche seinen Blick nicht zu kreuzen.
„Ich habe wieder nicht daran gedacht. Entschuldige..."
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Mirror Demon | Taekook
Fanfiction„Ich sehe es in jeder erdenklichen Spiegelung, in den Reflexionen der Schaufenster - ja selbst in Pfützen. Es ist immer da, beobachtet mich und lauert. Es wartet nur darauf." ~•~ Nachdem Jungkook von seiner Hochzeit mit einer langjährigen Freundin f...