Kapitel 29

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Jungkook

Ich sitze konzentriert an meinem Schreibtisch. Die Sonne scheint überraschenderweise in sanften Strahlen durch die Fenster hinein und erhellen mein Zimmer mit einem angenehmen Licht. Die Tischplatte vor mir ist überseht von ausgerissenen Blockseiten, Radiergummifetzten und etlichen Bleistiften. Nach dem Essen haben ich mich in mein Schlafzimmer zurückgezogen. Es ist nicht, dass ich Tae nicht bei mir haben möchte. So ist es auf keinen Fall. Liegt es eher daran, dass ich gespürt habe, wie mir die Kraft aus den Hand gleitet. Ein gruseliges Gefühl.

Durchatmend lege ich die Hand auf meinen Bauch. Ich sollte mich davon aber nicht zu sehr beirren lassen. Das alles wird wieder. Es sind nur noch wenige Monate bis zur Hochzeit, dann ist alles wieder, wie es war. Ja. Alles läuft nach Plan. Ich habe mich unter Kontrolle. Taehyungs Ausdruck vom vergangenen Morgen hätte ich festhalten müssen. Ich wette um meine teuersten Ölfarben, dass er nicht ansatzweise damit gerechnet hat, mich auf Gons Rücken zu sehen.

Ich bin Namjoon wirklich dankbar, dass er noch Zeit für mich an diesem Morgen gefunden hat. Fr. Lim hat ihn freundlicherweise am Vorabend angerufen. Ich habe ihn förmlich angefleht vorbeizukommen, um mir mit meinem Vorhaben unter die Arme zu greifen. Sobald Tae überzeugt ist, dass es mir besser geht, steht Jimin und Hobis wichtigstem Tag nichts mehr im Weg. Meine eigentliche Gesundheit macht da bestimmt mit. Wenn ich sehe und fühle - einreden tue ich es mir eigentlich sowieso - wie sehr es mir besser gehen kann. Dieses Wesen, dieses Vieh, wird bestimmt die Lust daran verlieren, mich weiter zu terrorisieren.

Vielleicht bilde ich es mir wirklich einfach nur ein. Es muss so sein. Aber die Narbe an meiner Schulter und Seite...
Vielleicht— Vielleicht bin ich einfach nur dumm gefallen?

„Jungkook?"

Erschrocken drehe ich mich der Zimmertür entgegen. Im Türrahmen steht der blonde Mann, dem ich es beweisen werde, dass ich schon bald wieder gesund sein werde, mich von diesem Schatten befreie.

„Darf ich kurz stören?", fragt er mich, doch betritt nicht mein Zimmer. Aus Höflichkeit? Ich denke mir nichts weiter dabei und nicke ihm bloß zu. Meine Hand ruht noch immer auf meinem Bauch.
„Du weißt ja, dass ich dich heute morgen gesucht habe wie ein Verrückter, weil ich nicht wusste, wo genau du steckst", erklärt er und gestikuliert dabei mit den Händen.
„Deswegen habe ich mir gedacht, dass du dir eine Art Handy zulegst, damit ich dich erreichen kann oder du mich, falls es dir urplötzlich schlecht geht. Verstehst du?" Ich nicke, doch Skepsis steht mir ins Gesicht geschrieben. Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Smartphone in der Hand gehalten habe. Mittlerweile habe ich schreckliche Ang— Nein.

„Ich besitze keines mehr... I-Ich kann Yoongi fragen, ob er mir eines bestellt. Warte, ich sage Fr.Lim, dass sie ihn für mich anruft", spreche ich und möchte bereits an Tae vorbei in den Flur traben, als mich das, was er in seiner Hand hält, aufhält. Lächelnd hält er es mir entgegen.
„Langsam, du Wirbelwind. Du kannst mein altes haben."
In seiner Hand hält er ein altes Tastenhandy. Es ist blau. Überrascht nehme ich es entgegen.

„Oh—", antworte ich ihm.
„Damit kannst du mich, Yoongi oder sonst wen erreichen. Und am wichtigsten, ich kann dich erreichen, falls du mal wieder abhanden kommst. Nur, bitte, tu' mir den Gefallen und starte nicht mehr ungeplant solche Aktionen. Ich dachte schon, dir wäre sonst was zugestoßen." Er legt seine Hand auf meiner Schulter ab und lächelt.

~•~

„Sag mal, wo hast du dieses Teil eigentlich jetzt aus dem Nichts her?", hake ich nach. Dass Taehyung ein Zauberer ist, wäre mir neu. Ich lehne mich auf der Couch etwas zurück und betrachte das kleine blaue Plastikteil mit einem kleinen, gläsernen Bild.
„Ach das, aus dem Ablagefach von meinem Motorrad. Das liegt da schon ewig und drei Tage drin." Ich nicke.
„Wir können die Nummern von Ärzten, Yoongi und anderen Freunden und Familienmitgliedern gleich eintragen, wenn du willst. Ich denke, dass wird uns eine Menge weiterbringen. Du kannst wirklich stolz auf dich sein, Jungkook."

Noch immer unsicher werfe ich dem Teil meine Blicke zu. Es ist seltsam. Tief atme ich durch. Auf dem etwa daumen-großen Bildschirm - er ist schwarz, also ausgeschaltet - erkenne ich eine Spiegelung von mir selbst.

„Ich habe ja schon fast vergessen wie ich aussehe."

Taehyung Augen weiten sich. Schnell versucht er in eine andere Richtung zu schauen. Er greift nach einem Glas Wasser und überbrückt so den für sich seltsamen Moment.
„Das letzte Mal vor einen Spiegel— müsste bei Fr. Jung in der Praxis gewesen sein. Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie lange das her ist."
Tae muss schlucken. Sein Blick pendelt zwischen Überraschung und Verwirrung. Man kann es ihm nicht verübeln.

„In dem Moment war es gar nicht mal so schlimm. Die Zeit darauf, als Fr. Jung kurz den Raum verlassen musste, erst da hat sich der Schatte so wirklich gezeigt. War nicht schön..." Ich habe damals gedacht ich werde wieder. Danach bin ich aber in ein so tiefes Loch gefallen, dass—Aber nun geht es mir gut.

„Ich hoffe es stört dich nicht aber; wie ist das so mit den Spiegelungen und deinem Schatten. Ich meine, man kann nicht alle Reflexionen vermeiden. Oder etwa doch?" Ich schüttele den Kopf, lächele. Es ist niedlich wie er danach fragt. Seine Hände liegen dabei gefaltet auf seinem Schoß. Er schaut wie eine neugierige Katze.

„Stimmt so halb. Dass man alles vermeidet, das ist unmöglich. Über vieles kann ich - muss ich - daher hinweg schauen. Zumindest zwinge ich mich dazu. Ich weiß aber, dass— Es ist immer da. E-Es beobachtet mich aber zum Glück bloß. Denke ich. Es hat mich bislang erst einmal körperlich verletzt." Mit mulmigen Gefühlen streiche ich über meine Schulte. Ich spüre darunter die Narbe. Taehyungs Ausdruck wandelt sich.

„Die Ärzte meinen bis heute: das ist eine Verletzung von etwas anderem, aber ich erinnere mich an die roten Augen und an seine weißen Zähne, als er zugebissen hat. Wieso sollte ich mir das ausdenken? Mein Leben wäre ohne es, um so vieles leichter." Er nickt zustimmend. Seine Arme sind mittlerweile verschränkt.

„Du lügst nicht, Jungkook. Und ich werde dir auch glauben. Egal, was diese Ärzte sagen." Ich lächele. Auf ihn ist wirklich Verlass. Ich kann nicht in Worte fassen, wie dankbar ich ihm bin. Glatt könnte ich ihn wieder küssen.

Mirror Demon | Taekook Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt