Sechs

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2018

Alleine sitze ich in meinem Zimmer und starre in mein Fotoalbum. Nicht viele in meinem Alter haben heutzutage eins. Ich liebe es. Bilder in Papierform in der Hand halten, statt auf einem Handydisplay anzustarren. Ich habe auch viele Bilder an Lichterketten befestigt an den Wänden meines Zimmers hängen. Lächelnd streiche ich mit meinem Daumen über den Körper des Mädchens, das mich so herzerwärmend anlächelt. Es ist nicht lange her, da habe ich das letzte Mal mit ihr geredet.

Ein Klopfen an meiner Tür lässt mich leicht zusammenzucken, doch ich sehe nur weiter schweigend das Bild in meiner Hand an. Sie war so lieb, so süß. Immer hilfsbereit, offen und gut gelaunt. Sie war so jung. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Schwere Zeiten lagen hinter ihr, Mobbing und Gerüchte legten ihr Steine in den Weg. Wir hatten viel gemeinsam, sind durch die selbe Hölle gegangen. Wahrscheinlich haben wir uns deswegen so schnell angefreundet. Wir haben uns verstanden, ganz ohne Worte. Konnten am Blick des anderen sehen, wie es uns ging. Aber so schnell wie diese Freundschaft begann, hatte sie auch schon wieder geendet.

Eine zierliche Hand legt sich auf meine und so lasse ich das Foto sinken. Mit tränenverschleiertem Blick sehe ich die Person neben mir an. So tief in Gedanken versunken habe ich nicht gemerkt, wie ich angefangen habe zu weinen. "Es ist okay.", flüstert Dot und sofort lasse ich mich weinend in ihre Arme sinken. Auch sie atmet schwer, fängt wahrscheinlich mit mir an zu weinen. Wir konnten noch nie die Tränen zurückhalten, wenn einer von uns weint.

"Ich vermisse sie auch.", haucht sie und streichelt mir beruhigend über den Rücken. "16! Sie war 16! So jung. So unschuldig. Sie hat nicht einmal richtig gelebt und jetzt ist sie tot.", schluchze ich. Die Bilder ihrer Beerdigung spielen sich in meinem Kopf ab wie ein endloser Film. Wir waren zusammen dort, Dot und ich. Viele Freunde von ihr, Schulkameraden, Lehrer und Eltern. Alle standen oder saßen dort in der Kirche, die Stimmung war drückend. Jeder war in seine eigenen Gedanken an sie versunken. Vorne neben dem Sarg stand ein Bild von ihr, nur ein paar Wochen alt, auf dem sie fröhlich wie sie war in die Kamera lacht.

Wir haben uns in der Schule kennen gelernt. Ich singe nicht gut aber gerne und so trat ich dem Musicalkurs bei. Dort haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Sofort waren wir Freunde, haben viel zusammen unternommen. Auch auf der Beerdigung war ich mit dem Musicalkurs. Nur ein paar Wochen vor ihrem Tot hatten wir unsere Aufführung und ihre Eltern wollten, dass wir einige Lieder aus dem Stück sangen. Und genau das taten wir auch. Für ihre Eltern. Für sie.

Fertig mit den Nerven standen wir alle um ihr Grab herum und sahen zu, wie ihr Sarg in die Erde gelassen wurde. Es war so unwirklich. Nur ein paar Tage zuvor hatte ich mit ihr geredet. Der Schrei ihrer Mutter schallt mir noch immer in den Ohren. Wie sie flehend vor ihrem Grab zusammengebrochen ist und geschrien hat, sie solle zurückkommen. 'Meine Cat! Meine süße Catarina!' hat sie immer wieder geschrien und geweint, bis sie von ihrem Mann langsam zur Seite geführt wurde.

Mit Tränen in den Augen habe ich alles beobachtet, hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Wenn man als Kind seine Eltern verliert, ist das ziemlich schlimm. Aber als Eltern das eigene Kind verlieren muss unerträglich sein. Verzweifelt habe ich mich an Dot geklammert, versucht meine Tränen unter Kontrolle zu halten. Nach einem kurzen Blick in ihr Grab und einem stillen Abschied, habe ich ihren Eltern mein Beileid ausgesprochen. Ihre Mutter hat mich nur voller Schmerz aber lächelnd angesehen, ihr Vater hat mich in seine Arme gezogen und sich bedankt. Für das Singen und für meine Freundschaft.

Und auch jetzt, zwei Monate später, klammere ich mich weinend an meine Freundin. Sie streichelt mir nur sanft über den Rücken, wiegt mich hin und her wie ein Baby, wartet geduldig darauf, dass ich mich beruhige. Irgendwann löse ich mich aus ihren Armen und wische mir mein nasses Gesicht mit den Händen ab. "Sie fehlt uns allen.", murmelt Dot leise und ich nicke nur. "Es hätte nicht sein müssen. Die Ärzte haben einen Fehler gemacht und sie musste den Preis dafür bezahlen.", hauche ich mit vom weinen heiserer Stimme.

Ihr Tot war kein Unfall. Cat hatte einen angeborenen Herzfehler. Die Ärzte haben ihn nie entdeckt und so war es für alle eine Überraschung, als sie plötzlich ohnmächtig, eigentlich tot, zusammenbrach. Die Notärzte mussten sie wiederbeleben und erst da stellte man fest, dass eine ihrer Herzklappen nicht richtig funktionierte und schließlich versagte. Schnell wurde sie für eine Notoperation in eine Spezialklinik eingefolgen. Das Spenderherz war da, die Operation vorbereitet, nur die letzten Formalitäten mussten geklärt werden.

Sie war vielleicht fünf Minuten alleine, doch das reichte damit sie uns verließe. Fast drei Stunden versuchten sämtliche Ärzte sie wiederzubeleben, aber es war zu spät. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen, sie war tot. Mit grademal 16 Jahren war sie tot. Am nächsten Morgen ging die Nachricht in der Schule herum. Erst in der Lehrerschaft, dann in ihrer Klasse. Am Ende des Schultages wussten es alle. Und alle waren bestürzt. Cat hatte nicht viele Freunde, aber sehr viele kannten sie. Das sie einfach weg war, war für alle ein Schock, ob man sie mochte oder nicht.

Wieder gleitet mein Blick auf das Bild. Es ist eine Aufnahme von unserem Winterball. Der letzte für mich, sie hätte noch zwei vor sich gehabt. Lächelnd sehen wir in die Kamera, ich habe meinen Arm um ihre Taille gelegt, sie hat ihre um meinen Hals geschlungen. Ihre dunklen Haare fielen ihr in sanften Wellen über den Rücken, ihr Smaragdgrünes Kleid lag eng an und sah wunderschön an ihr aus. Es ist das letzte Bild, dass wir zusammen gemacht haben. Und das schönste auch. Inzwischen habe ich meinen Abschluss, den sie leider nicht miterleben konnte. Und statt zu feiern, dass ich die Highschool endlich hinter mir habe, bedecken dunkle Wolken meine Gedanken, dass sie diesen Tag nie erleben wird.

Und wieder einmal wird mir der Verlust bewusst. Wie viele Menschen sind einfach so aus meinem Leben verschwunden? Schon in der Grundschule, als ich meine besten Freunde und Alec verlassen musste. Jetzt Cat. Meine Eltern verstehen sich auch nicht mehr so gut und Camille ist keine Hilfe. Wie soll ich das durchstehen? Ich will doch einfach nur glücklich sein! Mit den Menschen an meiner Seite die ich liebe und die mich lieben. Doch wie soll ich unbeschwert leben, wenn mir jedes mal vor Augen geführt wird, wie schnell ein Mensch verschwinden kann. Und würde es den Menschen um mich herum auffallen, wenn ich auch verschwinde? Würde es sie stören? Würden sie mich vermissen oder ihr Leben unbeeindruckt weiterführen?

If I see you againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt