Chapter 60

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"Das glaube ich nicht. Also doch, ich glaube es schon, aber ich.." Stammelt Jess am anderen Ende der Leitung und scheint ebenso überfordert mit dieser Situation zu sein, wie ich es bin. Naja, zumindest halbwegs. Der Schmerz in meiner Brust klopft im Sekundentakt gegen meine blasse Hülle und versucht hinaus zu brechen. Selbst der Schmerz versucht zu fliehen. Vor mir. Vor ihm. Vor dieser ausweglosen Situation. Davonlaufen. Stunden, wenn nicht sogar Tagelang in eine Richtung laufen und hoffen, irgendwann in der Zivilisation anzukommen. Davonlaufen. Dem Weg folgen, den ich nur noch wage in Erinnerung habe. Der Weg, der uns nach kilometerweiter Strecke endlich hierher gebracht hat. Doch mit welchem Ziel? Nicht mehr einsam zu sein. Jemanden in den Arm nehmen zu können. Meinen Kummer von der Seele reden und stundenlang Eis und Chips in mich hinein stopfen. Mir würde es besser gehen. Eines Tages werde ich wieder dort raus gehen und wieder Heather sein. Doch wie lange benötigt er, um mich zu finden und alle um mich herum aus Rache zu verletzen? "Das wollte ich nicht. Ich dachte, ich tue dir etwas Gutes, wenn ich ihn unter Druck setze. Er tat zwar so, als wäre ihm egal was ich sage, aber anscheinend hat es funktioniert. Er liebt dich auf seine kranke Art." Ich zucke mit den Schultern, auch wenn Jess mich nicht sehen kann und schluchze. "Ich verstehe ihn nicht. Ich verstehe nicht, warum man immer und immer wieder um jemandem kämpft nur um ihn dann wieder fallen zu lassen. Das ergibt keinen Sinn." Sprudeln die Gedanken aus ihr heraus, die mich plagen seit ich diesen Typen kennengelernt habe. Eine Sinnhaftigkeit habe ich nie entdecken können. "Er war zwischendurch wirklich toll. Er hat mich vor alles und jedem beschützen wollen und immer wieder gesagt, dass er mich liebt und er versucht an sich zu arbeiten. Er hat mit den Welpen getobt und sie auf seine Art zu erziehen versucht. Manchmal kommt es mir so vor, als habe er nie gelernt, wie man sich richtig verhält." Erkläre ich meiner Cousine und möchte mich gleich darauf wieder Ohrfeigen. Es ist vollkommen egal, wann er wie gewesen ist. Das macht seine Lügen nicht ungeschehen. Das macht nichts davon erträglicher. Im Gegenteil. Es trägt viel mehr dazu bei, dass man sich einzureden versucht, dass es noch eine Chance gibt. Dass man ihm verzeihen könne, weil es auch gute Zeiten gegeben hat. Ein undurchdringbarer Kreislauf. Zumindest scheint es so. "Weißt du denn garnichts über seine Vergangenheit?" Ich lege die Stirn in Falten, als würde mir das einen Vorteil verschaffen in meinen Erinnerungen zu kramen. "Nur, dass seine Eltern von diesen Luciferwölfen ermordert wurden." Ich höre, wie meine Cousine in etwas herumblättert. Ob sie in den alten Büchern schmökert, die ich von Logan bekommen habe? Schließlich hat sie einen Schlüssel für das Haus und kümmert sich um den Garten. Ja, ich habe noch immer die Hoffnung eines Tages wieder dorthin zurückzukehren und mit diesem Mann und den Welpen glücklich zu werden. Wissend, dass nichts davon vernünftig wäre, dränge ich diesen Wunsch jedoch wieder tief in mich hinein. "Und dass er ein Hybrid ist, oder?" Ich nicke, ehe ich zustimme und mich ins Bett fallen lasse. Es tut gut mit jemandem zu reden. Die Tränen lassen sich zwar nicht stoppen und auch mein Herz liegt in tausend Teile gesprengt am Boden, aber immerhin bin ich nicht ganz allein. "Du stöberst über Tage hinweg in diesen alten Schinken und denkst keine Sekunde daran, nach den Ursprüngen deines Mates zu forschen?" Ich ziehe irritiert eine Augenbraue hoch. "Das klingt für mich nach Stalken." Jess schnaubt verärgert. Natürlich tut sie das. Für sie ist es völlig normal über alles und jeden bis ins kleinste Detail informiert zu sein. Es gibt praktisch niemanden in ihrem näheren Umfeld, den sie nicht komplett durchleuchtet hat. "Ich glaube, ich habe eine Erklärung für all das. Ich werde sofort zu Omimi fahren und du rufst Joshua an, okay? Ich melde mich." Ich komme nicht mehr dazu zu antworten und schon gar nicht zu der Frage, was Omimi mit der ganzen Sache zu tun hat, da legt Jess bereits auf und lässt mich im ewigen Nichts zurück. Seufzend lege ich mein Handy beiseite und schließe die Augen. Eigentlich habe ich nicht vorgehabt eine Suchaktion zu starten. Viel mehr wollte ich meinen Kummer loswerden und meinen Frust von der Seele reden. Vielleicht den ein oder anderen Lösungsvorschlag erhalten. Jess hingegen spielt lieber Detektiv. Enttäuscht über dieses Telefonat raffe ich mich schließlich doch auf und ziehe mich an. Rumliegen und in den eigenen Tränen ersticken wird die Zeit nicht schneller vergehen lassen. Also beschließe ich, an etwas anderes als an meinen verlogenen Mate zu denken und mich stattdessen weiter im Dorf umzusehen. Wenn man diese handvoll Hütten überhaupt als Dorf bezeichnen kann.

Neugierig verschaffe ich mir zu den anderen Hütten Zutritt und lasse meine Finger über die Wände gleiten, als könnten sie mir ihre Geschichten erzählen. Warum hat er mir nie von diesem Ort berichtet? Er ist so wunderschön und unberührt, dass es schon beinahe mystisch wirkt. In einem der Zimmer halte ich inne, betrachte ausgiebig den noch gut erhaltenen Schreibtisch und denke lange darüber nach, ob es vertretbar ist die abgeschlossenen Schubladen zu durchwühlen. Als ich mich schließlich dazu durchringe und mit zarter Gewalteinwirkung in jede der einzelnen Fächer schauen kann bleibt mein Blick an einem Tagebuch hängen. Vorsichtig nehme ich es und setze mich in den knirschenden Schaukelstuhl im Wohnzimmer, um in die Welt abzutauchen, die Zachary in seinen ersten Lebensjahren zu Gesicht bekommen haben muss.

Amalia hat Recht behalten. Der Jagderfolg würde uns durch den Winter bringen. Keiner von uns würde dem Hungertod entgegen blicken müssen. Ein weiteres Jahr wird unseres sein und auch mein Junges würde ein Teil dieser Welt werden. Im Frühjahr, nur noch wenige Wochen bis ich es endlich in den Armen halten und ihm ebenso eine gute Mutter sein kann wie es die Fähe, Kalea, für ihren Nachwuchs ist. Stunde um Stunde sitzen wir vor dem Kamin, stricken wunderschöne Decken und reden über die zukünftige Aufgabe, die mich solch einer Furcht aussetzt. Ohne sie wäre ich keine so sorgsame Mutter, die Tag für Tag ihr Junges in ihrem Bauch hütet und es Nacht für Nacht in den Schlaf singt. Die Liebe einer Mutter ist unbeschreiblich und doch jedem so nahe. Ihre Jungen, die gebürtigen Nachfolger Thorins, werden mein Junges mit Eifer beschützen und führen. Kaleas Liebe zu ihnen ist so stark, dass sie nicht zu sehen vermag, wie sonderbar sie doch seien. Hetzten sie doch täglich andere Waldbewohner zu Tode, weil es ihnen Freude bereitet. Amalia, Dorfälteste gepaart mit einem füchsischen Verstand, warnte sie jenen harmonischen Abend vor einer innigen Verbindung des Blutes. Kalea und Thorin jedoch, lauschten nur mit blassem Verstand. War ihre Liebe zu groß und ihr Wissen über die Gefahren zu klein, um einander Treue zu schwören ohne zukünftig Nachkommen zu erschaffen. Thorins Blut des Teufels Schmied und Kalea, die dem Himmel gleicht. Wir haben nicht ahnen können, was ihre Nachkommen zum Vorschein bringen würden. Bissen sie sich doch wöchentlich beinahe zu Tode, im Konkurrenzkampf um die Führung des Rudels. Thorins Blut war es gewesen, welches sie zu Monstern schuf. Er ein treuer Gefährte, des Teufels nicht würdig und des Friedens angetan. Diese Rüden, sollten mein Junges schützen? Das Rudel verlassen. Für immer fortgehen und es schützen vor ihnen. Jeden Abend rät Großmutter es mir und dennoch sitze ich hier an meinem Schreibtisch und sehe freudestrahlend hinaus. Mein Zuhause soll auch seines sein. Kalea würde recht behalten. Sind ihre Jungen doch zauberhafte Engel, die mich jeden Morgen begrüßen und sich von mir die alten Märchen vorlesen lassen. Bemühen sie sich doch stets gute Kinder zu sein. Loki, mein Schatz. Weißt du es jetzt noch nicht, so wirst du es bald erfahren. Die Harmonie, die Ruhe und die einzigartige Liebe dieses Rudels wird bald auch dich mit Glückseligkeit erfüllen.

The Alpha And Me -Love The Way You Lie-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt