Erschöpft krieche ich durch die Straßen Walla Wallas, Washington. Heute ist einer dieser Tage, die man am liebsten für immer und ewig aus dem Gedächtnis streichen möchte. Fast könnte man meinen, dass die Standpauke, die ich am heutigen Morgen von meiner Betreuerin erhalten habe am schlimmsten war, aber mein Leben ist da offenbar anderer Meinung. Eigentlich bin ich auch selbst Schuld. Ich hätte ganz einfach darauf achten müssen, dass ich gestern Abend meinen Wecker früh genug gestellt habe. Allison und ich waren bis zur späten Stunde damit beschäftigt den Großteil meines Hab und Gutes zu verstauen. Erstaunlicherweise brauchte ich nicht einmal zehn von den abgenutzten Umzugskartons, um alle meine Besitztümer gut einzupacken. Ob ich das erschreckend oder erleichternd finden soll ist mir absolut unklar.
Alli wird mir auf jeden Fall gewaltig fehlen. Wir haben in den vergangenen Jahren so ziemlich alles zusammen gemacht. Mit der Zeit wurden aus zwei einfachen Zimmergenossinnen Freunde. Schließlich die Besten. Wenn mich meine Kindheit im Heim eines gelehrt hat, dann war es die Tatsache, dass jeder für sich selbst kämpfte. Ganz besonders, wenn man sich nicht auf den typischen Cliquen Kram einlässt. Wenn man nicht bei den Klingelstreichen mitmacht und die alten Ladys auslacht, die deine eigene Großmutter sein könnten. Wenn man nicht die Nachtruhe stört und man sich nicht nachts im Schlafanzug zum nächsten Kiosk schmuggelt oder so ziemlich jede geltende Regel bricht. Alli und ich waren genau so. Wir gehörten einfach nicht zu den »Coolen«. Schon als kleine Kinder waren wir die Braven.
Seufzend schließe ich die Augen und fange die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein, während meine Gedanken an die erste Begegnung mit Alli abdriften:
Mit einem Mal wird die Tür aufgerissen. Bis gerade eben, war ich in einem dieser fantastischen Einhornromane abgetaucht, doch jetzt mustert mich der strenge Blick von Mrs. Smith. »Brooklyn, was machst du hier ganz allein?«
Sofort legt ich erschrocken mein Buch zur Seite und ziehe schüchtern den Kopf ein.
»Lesen?«, gebe ich kleinlaut zu und lasse es eher wie eine Frage klingen.
»Du hast um diese Uhrzeit nicht auf deinem Zimmer zu sein. Geh raus zu den anderen und spiel.« Es klingt nicht nur wie ein Befehl, es ist auch einer.
Einen Augenblick lang rümpfe ich die Nase. Meinen vollen Namen kann ich nicht ausstehen. Im nächsten Moment nicke ich dann aber doch und springe von dem Bett gegenüber meinem eigenen auf. Schon lange ist es leer. Meine letzte Bettnachbarin wurde vor Ewigkeiten adoptiert. Sie hatte Glück. Ich versauere im Gegensatz zu ihr schon – kurz zähle ich innerlich mein Alter an den Fingern ab – acht ganze Jahre in diesem Kinderpflegeheim. Seit ihrer Abreise nutze ich es als einen Ort zum Lesen, Nachdenken oder Träumen.
Gerade will ich mich an Mrs. Smith vorbeidrängeln, als sie mich an der Schulter zurückhält. »Warte noch einen Moment«, sie macht eine bedeutungslose Pause und deutet auf ein kleines Mädchen, das sich zurückhaltend hinter ihrem Rücken versteckt. »Du bekommst eine neue Zimmernachbarin. Ich bin mir sicher, du wirst mit Allison gut auskommen.«
Zaghaft lugt das Mädchen, dessen Namen ich nun kannte, an meiner Betreuerin vorbei. Die Schreckschraube, ein Wort auf das ich unfassbar stolz bin, seitdem ich es in der Schule von den Jungs gelernt habe, ist gewollt noch etwas sagen, als eine lautstarke Diskussion aus dem Flur zu vernehmen war.
»Bitte entschuldigt mich kurz Kinder.« Ohne einen weiteren Blick verschwindet sie aus meinem Zimmer, das ich mir in Zukunft erneut teilen muss.
Und ich stehe mit Allison allein in dem kargen Zimmer. Oft genug habe ich versucht es mit Postern von niedlichen Ponys zu schmücken. Ich spüre, dass sie verschreckt ist und ganz offensichtlich Angst hat. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas gesehen habe. Lächelnd machtnich einen Schritt auf sie zu und strecke ihr fröhlich meine Hand entgegen. »Hey, ich bin Brooklyn, aber bitte nenn mich nur Lyn.«
Nur langsam blickt das Mädchen zu mir auf und nimmt zögerlich meine Hand. »Alli«, stellt sie sich mir nur kurz vor und starrt daraufhin wieder ins Leere.
Eine Weile sehe ich mir das mit an. »Weißt du im Grunde ist es hier gar nicht so schlecht. Ich war zwar noch nie woanders, aber ich bin mir sicher, dass es schlimmere Orte gibt.« Ich spreche einfach drauflos und erhoffe mir eigentlich nur wenig von meinem Versuch, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, doch es scheint zu funktionieren.
Ihre blonden Locken fallen zurück und sie fängt an zu erzählen. »Es gibt aber auch schönere. Das Meer zum Beispiel.«
Traurig denke ich daran, wie es wohl sein würde im salzigen Meerwasser zu tauchen. »Ich war noch nie am Meer«, gebe ich zu.
»Es ist wunderschön. Ich war immer mit meinen Eltern dort.« Ihre Augen werden plötzlich ganz glasig. Irgendetwas stimmt nicht. Aber es muss ja auch einen Grund geben, warum sie nun hier ist.
»Was ist mit ihnen?«, hake ich nach.
»Sie sind gestorben. Vor ein paar Wochen.«
»Das tut mir leid.« Ehrlich. Auch wenn ich ein bisschen froh bin eine neue Bettnachbarin zu haben, da ich mich bei Gewittern schrecklich fürchte, muss es für sie sicherlich furchtbar sein ihre Eltern verloren zu haben.
Ich hingegen weiß nicht einmal, wie es ist überhaupt welche zu haben. Meine Mutter wollte mich nicht. Im Grunde habe ich niemanden. So wie Alli. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich das schon ganz bald ändern würde...
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too close
Teen FictionLyn, ein junges eher in sich gekehrtes Mädchen wird unverhofft adoptiert. Mit dem Umzug in einen fremden Bundesstaat muss sie ihr altes Leben hinter sich lassen. Besonders schwer fällt ihr der Abschied von ihrer besten Freundin. Denn Alli ist die ei...