⊱Kapitel 17⊰

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Jo verschwindet direkt in den Keller. Wahrscheinlich, um sich an den Vorräten zu bedienen. Sie lässt mich allein im Flur zurück, wo ich noch immer wie versteinert dastehe. Seit unserem Fast-Kuss haben wir weder miteinander gesprochen, noch geschrieben. Eigentlich hatte ich auch nicht vor, das zu ändern, bis es unvermeidbar ist. Und erst recht nicht hatte ich vor dieses Gespräch womöglich hier bei Jo und Ethan zu führen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir sofort kotzübel. Nicht nur, weil ich meine plötzliche Flucht an jenem Abend erklären müsste, nein, vielmehr weil meine beste Freundin und ihr Bruder dann zwangsläufig die ganze Wahrheit erfahren würden. Die, die ich Jo so oder so gleich breit ausführlich schildern muss. Vielleicht hätte das Leben sich ja einmal für mich entscheiden können, statt für die Hölle. Aber wie so oft, macht mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Selbst, wenn ich Aiden nicht allein über den Weg laufe, wird es sich kaum vermeiden lassen, Ethan und ihn zu ignorieren. Sollten wir den Jungs begegnen, kann ich meine abweisende Miene wohl kaum länger aufrechterhalten. Ethan würde es sicherlich bemerken und entweder die Klappe halten oder uns beide mit Fragen löchern. Leider beruhigt mich dieser Fakt überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Man muss nicht unbedingt Zeit mit Jo, Ethan oder Aiden verbringen, um zu begreifen, dass die drei nicht annähernd so dumm sind, wie manche zu glauben scheinen. Unangenehme Situation hin oder her. Ich kann nur hoffen, sie ausdrücklich zu vermeiden. Erschrocken fahre ich herum, als ich Schritte höre. Für eine winzige Sekunde halte ich inne. Bin allerdings umso erleichterter, als es nur Josie ist, die den Weg aus dem Keller gefunden hat.
»Ich hab uns ein paar Snacks besorgt. Wir müssen nur noch das Popcorn warm machen und uns Getränke holen.«
Ich nicke gedanklich noch immer in den Horrorvorstellungen von Aidens und meiner Begegnung gefangen. Gemeinsam gehen wir in die Küche. Jo scheibt direkt das Popcorn in die Mikrowelle, während ich mich ohne zu zögern an den Getränken im Vorratsschrank bediene.
»Fast hatte ich befürchtet, dass die Jungs uns unser ganzes Knabberzeug geklaut haben.« Mit einem Ausdruck im Gesicht, als würde sie ihren Bruder und Aiden selbstverständlich umbringen, wenn es anders wäre, greift sie nach zwei Gläsern aus dem Hochschrank. Doch mir geistert permanent eine ihrer Bemerkungen im Kopf herum.
»Du, du wusstest, dass er hier ist?«, frage ich ruhig und umklammere schwer schluckend die zwei Flaschen in meinen Händen. Mitfühlend schaut sie mich an.
»Entschuldige Lyn. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Gewusst habe ich das auch nicht. Aber er ist am Wochenende ständig hier.« Ihre rechte Hand drückt kurz meine Schulter.
»Wegen seinen Eltern«, äußere ich meine Vermutung darüber, warum Aiden anscheinend so ziemlich jedes Wochenende hier verbringt.
Jo sagt nichts, aber das muss sie auch gar nicht. Ihr Blick spricht Bände. Seufzend beobachte ich Josie, wie sie abwartend vor der Mikrowelle steht. Mit der Zeit fällt es mir immer schwieriger kein Mitleid für Aiden zu empfinden, auch wenn ich weiß, dass es niemanden etwas nützt. Und mit diesen Gedanken muss ich immer wieder auch an meine selbst denken. Was wäre, wenn ich von Anfang an eine richtige Familie gehabt hätte, die sich aber irgendwann mehr mit einem anderen Kind beschäftigt und mich, eher weniger bewusst vernachlässigt und mich auf diese Weise verletzt. Hätte ich das gewollt? Es ist ein Augenblick der kompletten Verwirrung. Einerseits möchte ich Aiden nach unserem viel zu nahen Moment aus dem Weg gehen. Andererseits muss ich zugeben, dass er mir schon jetzt unendlich fehlt. Wie es ihm wohl gerade geht? Und irgendwie würde ich auch liebend gerne wissen, was er über das Ganze denkt. Wie kann man so viel für jemanden empfinden, den man auf eine gewisse Weise genauso sehr hassen möchte? Ein kurzes Piepen lässt mich zusammenzucken. Die Mikrowelle. Vorsichtig holt Josie unser Popcorn heraus und kann ein, zwei Fluche nicht unterdrücken, als sie sich die Finger an der heißen Verpackung verbrennt. Wortlos klemme ich mir die Flaschen unter die Arme. Eine links, eine rechts und schnappe mir unsere Gläser. Hintereinander trotten wir die Treppe entlang nach oben. Auch, wenn ich jetzt schon zum zweiten Mal in diesem Haus bin, fühlt es sich noch immer so merkwürdig an. So vertraut und gleichzeitig doch so fremd. Josie tritt vor mir in ihr Zimmer und wirft achtlos die Packung Popcorn auf ihr Bett. Ich schüttle grinsend den Kopf und stelle die Gläser und Getränke ein großes Stück sorgsamer auf ihren Nachttisch. Anschließend schnappt sie sich die Fernbedienung und lässt sich in die vielen flauschigen Kissen auf ihr Bett fallen. Ich tue es ihr gleich. Oh mein Gott. Hätte ich gewusst, wie kuschelig die Dinger sind, hätte ich mich niemals aufs Bett plumpsen lassen.
»Also, jetzt erzähl mal. Wie wars? Ich will alles wissen.« Neugierig schaut meine beste Freundin mich aus großen Augen an.
Genervt stöhnend schiebe ich mir ein Kissen in den Rücken, um es noch gemütlicher zu machen. Seit wir das Café verlassen haben weiß ich, dass ich nicht darum herumkomme, ihr die ganze Geschichte zu erzählen und doch bin ich in diesem Augenblick verdammt nervös. Es liegt nicht einmal daran, ihr von der ganzen Sache zu erzählen. Viel mehr liegt das Problem an der Person, die in das Ganze verwickelt ist. Ich meine Josie kennt Aiden schon so lange. Er ist der beste Kumpel ihres Zwillingsbruders. Den sie im Augenblick wiederum am liebsten Köpfen würde. Schmunzelnd knete ich meine Finger, in der stillen Hoffnung, mich ablenken zu können. Ich lasse mir einen Moment, in dem Josie mich gespannt mustert. Fast so, als würde ich gleich einen hochdramatischen Krimi sprechen wollen. Von wollen kann hier nicht unbedingt die Rede sein. Doch dann nehme ich all meinen Mut zusammen und setzte zum Sprechen an: »Also nachdem ihr gegangen seid, bin ich ja mit zu ihm...«
Jo hört mir interessiert zu, sagt nichts, spielt höchstens unbewusst mit Gestiken und Mimiken. Als ich endlich zum Ende komme, merke ich, wie staubtrocken mein Mund eigentlich geworden ist. Vermutlich habe ich die Geschichte viel ausführlicher und ausschweifender erzählt, als ich es ursprünglich vor hatte. Alli meint öfters, dass es genau das wäre, was jede meiner Erzählungen so spannend macht. Bisher ging es dabei aber auch nie, um irgendwelche Fast-Küsse oder dergleichen.
»Was? Das hast du nicht wirklich gemacht?« Fassungslos starrt sie mich an.
»Doch Jo, ich bin aus dem Haus der Harpers geflüchtet.«
Ihr scheint es wirklich die Sprache verschlagen zu haben.
»Ja, aber warum?«, stammelt sie.
Ja, warum eigentlich? Ich zucke ratlos mit den Schultern.
»Vielleicht, weil es mir einfach unangenehm war. Was weiß ich, was die Harpers gedacht hätten. Vielleicht wollte ich es Aiden nicht noch schwieriger machen.«
Ich lasse es klingen, als wären es ein Haufen Fragen, die ich mir still für mich selbst längst beantwortet habe. Meiner Ansicht nach gab es nur eine logische Schlussfolgerung.
Meine Flucht war eine einzige Kurzschlussreaktion. Ein Aussetzte meiner Synapsen, die sich spontan und ohne mich darum zu bitten einfach gehandelt und mein Körper nur reagiert hat. Einen anderen Grund kann es einfach nicht geben.
»Und was glaubst du denken Elizabeth und Elliot jetzt?«
Verdammt. Darüber habe ich mir bisweilen überhaupt keine Gedanken gemacht.
»Oh nein.« Als hätte mich die Erleuchtung gepackt fasse ich mir an die Stirn und meide Jo´s Blick.
»Oh doch.« Ist ihre hilfreiche Antwort. Sofort spinnen sich die nächsten Horrorszenarien in meinem Kopf zusammen.
»Vielleicht halten sie mich für vollkommen verrückt? Oder sind der tiefen Überzeugung, dass irgendetwas unschönes vorgefallen ist. Oder.-«
Jo unterbricht mich, indem sie ihre Hände an meine Arme legt und ich zu ihr aufschaue.
»Hey, so schlimm wird es schon nicht sein.«
Wenig überzeugt nicke ich.
»Lass uns einfach ein paar kitschige Filme schauen und uns beide so auf andere Gedanken bringen.«
»Klingt gut.«
Lächelnd schaltet sie den Fernseher ein, während ich unsere Snacks zu uns aufs Bett ziehe.

Stille, absolute Stille. Verwirrt öffne ich langsam meine schweren Lider und schaue mich um. Ich bin in Jo's Zimmer. Stimmt. Unser Mädels Abend. Ohne mich zu viel zu bewegen lasse ich den Blick schweifen. Jo neben mir schläft halb eingerollt zwischen den abermillionen Kissen auf ihrem Bett. Unbeholfen richte ich mich auf und spüre direkt einen ziehenden Schmerz in meinem Nacken. Mist. Wir müssen beim Filme schauen einfach weggedämmert sein. Verschlafen setzte ich mich nun ganz auf und fahre mir einmal durchs Gesicht und durch meine Haare, die wahrscheinlich einem Vogelnest ernstzunehmende Konkurrenz machen. Der Fernseher steht längst auf Stand-by, zaghaft bahnen sich die Sonnenstrahlen ihren Weg, durch die dünnen beigen Vorhänge, die Josie gestern Abend noch schnell zugezogen hat. Sie meinte, es wäre gemütlicher. Wir wissen beide, dass sie Recht hatte. Zuletzt entdecke ich mein Handy auf Jo´s Nachttisch. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, beuge ich mich über sie und ziehe mein Handy unter der Chipstüte weg, von der es zur Hälfte bedeckt ist. Halb acht. Eigentlich gar nicht so spät, aber eben auch nicht mehr unendlich früh. Seufzend wege ich ab, ob ich mich noch einmal hinlegen soll. Entscheide mich dann aber doch, einfach aufzustehen. Das müssten wir ohnehin bald und außerdem kann ich so dem Ansturm aufs Bad entfliehen. Genauso umsichtig wie zuvor schäle ich mich aus dem Bett, lege mein Handy zur Seite und schnappe mir frische Klamotten und meine Kulturtasche aus meinem Rucksack. Kurz lasse ich die warmen Sonnenstrahlen auf mich wirken, ehe ich mich strecke und mir mein Nacken erneut in die Quere kommt. Verfluchter Dreck! Mehr oder weniger wach trete ich in den Flur und schließe ganz leise die Tür. Den Blick auf den Boden gerichtet drehe ich mich um und stoße unaufhaltsam auf etwas hartes. Was zur-? Eine leise Vorahnung beschleicht mich. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, wer es ist. Seine großen Hände legen sich an meine Taille. Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Das Blut rauscht mir in die Ohren. Mein Puls rast.
»Vorsichtig Lyn. Du solltest besser hinschauen wo du lang gehst.« Seine raue Morgenstimme bringt mich fast um.
Zögernd, wie ein Roboter schaffe ich es endlich meinen Blick vom Boden zu lösen und blicke direkt in seine eisblauen Augen, in denen heute so vielmehr liegt, als Trauer oder Freude. Ich kann es nicht ganz definieren, aber dafür lässt er mir auch keine Chance.
»Ist alles okay?«
Ich nicke nur.
»Dann ist ja gut.« Aiden hält meinen Blick für ein paar Sekunden fest. Gerade so lange, dass es sich intim, aber nicht unangenehm anfühlt. Dann lässt er mich plötzlich unerwartet los. »Man sieht sich.« Seine Hände gleiten endgültig von meinem Körper. Ich stehe abermals wie zur Salzsäule erstarrt da. Ich teile meine Lippen, will etwas erwidern, aber es kommen keine Worte aus meiner Kehle. Aiden wendet sich ab und geht in langsamen Schritten auf die Treppe zu. Ich weiß, dass es meine Chance ist, mit ihm zu sprechen. Bevor er abhaut, so wie ich es getan habe. Viel beengender als das gerade eben, kann es eigentlich gar nicht werden.
»Ai-Aiden.« Meine Stimme bebt, zittert vor Aufregung.
Abrupt bleibt er stehen und dreht sich zu mir.
»Ja?«
Entweder jetzt oder nie.
»Ich, also wegen der Sache.« Ich muss es nicht aussprechen, damit er weiß was ich meine.
Sein Blick verrät es längst.
»Ich hoffe, dass das-.«
Was eigentlich? Ich will Aiden wirklich nicht verlieren. Er ist mir ein guter Freund geworden, aber so kann das nicht funktionieren. Wir müssen das klären, sonst würde es immer zwischen uns stehen. Folge dessen irgendwann auch unsere Freundschaften zu Jo und Ethan leiden lassen.
»Nichts zwischen und ändert?«, beendet er meinen Satz.
Ob ich ausgerechnet das sagen wollte bleibt mir unklar. Unfähig zu sprechen nicke ich nur.
»Wird es nicht. Versprochen. Lass und das einfach vergessen, okay?« Aidens wachsamer Blick liegt auf mir.
»Okay«, stimme ich einfach zu. Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn wir das ganze einfach unter den Teppich kehren. Wir verbringen weiterhin Zeit miteinander, ohne uns gegenseitig mit jenem Moment zu zerstören. Aiden sieht aus, als wolle er noch etwas sagen, schluckt die Worte dann allerdings herunter und schlendert seelenruhig die knarrenden Treppenstufen hinab. Und ich? Ich stehe hier nur vollkommen verwirrt über die vorangegange Begegnung mit meinen Klamotten im Arm und kann nicht anders, als zu Treppe zu starren, als würde Aiden sie gleich jeden Augenblick wieder hinaufkommen.

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