⊱Epilog⊰

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Gedankenverloren blicke ich auf das kleine Notizheftchen in meinen Händen hinab. Ganz von allein fliegt die Miene des Füllhalters übers Papier und hinterlässt königsblaue Linien. Viele, krumme und unsymmetrische. Zusammen ergeben sie eine Vielzahl an Buchstaben, Wörtern, Versen und schließlich ein neues Gedicht. Wie so oft sitze ich nach dem Ende der letzen Schulstunde auf der Tribüne. Besser gesagt in der dritten Reihe. Wie jedes Mal. Von hier oben hat man einfach den besten Ausblick auf das grüne Spielfeld, gleichzeitig weht einem aber ab und an auch ein leichtes Lüftchen um die Nase. Die dritte Reihe war eben schon immer meine. Auch zu früheren Zeiten. Damals, als ich meinen Lieblingsplatz noch mit Alli geteilt habe. Beinahe schweifen meine Gedanken an diesem sonnigen, aber doch kühleren Herbstnachmittag ab. Seit ich meine zwei spärlichen Umzugskartons im Kinderheim von Walla Walla, Washington gepackt und mich tränenreich von Alli verabschiedet habe ist so viel geschehen. Der Umzug, die neue Umgebung, ein ganz neuer Bundesstaat. Fremde Menschen. Victoria und Richard. Josie und Ethan. Die Highschool und nicht zu vergessen Aiden. Fremde sind zu Freunden geworden, Freunde zu sich Liebenden, durch Schmetterlinge verbundene zu Geschwistern und schließlich zu einem Verhältnis irgendwo zwischen Freunde und Familie. Theatralisch seufzend setzte ich den Punkt an das Ende des Gedichtes. Dieses Mal steht es ganz im Zeichen der Veränderungen. Nämlich jene, die meine Gedanken beherrschen. Seit Wochen, nein sogar seit Monaten. Zufrieden verbinde ich die Kappe des Füllers mit dem dazugehörigen Stift und bin im Inbegriff auch mein Heftchen zu schließen und mich auf das Training zu konzentrieren, als ich eine Gestalt zu meiner Rechten im Augenwinkel ausmachen kann. Zugegeben es gibt nicht viele Personen, die sich hier her verirren würden, aber es spielt so oder so keine Rolle. Es gibt nur einen einzigen Menschen, den ich überall spüren könnte, auch wenn ich ihn nicht sehe. Lächelnd wende ich mich ihm zu. Aiden strahlt bis über beide Ohren.
»Hey Lyn.« Auch, wenn es inzwischen für uns beide zur Gewohnheit geworden ist, mich auf der Tribüne anzutreffen, freut sich Aiden jedes Mal aufs Neue wie ein Kleinkind an Weihnachten. Ich kann es verstehen. Denn die Harper's interessieren sich nach wie vor nur für die Ergebnisse. Nicht für den steinigen Weg. Und auch nicht für den Prozess. Da ist kein einziger Funken ernsthaftes Interesse an den Hobbys ihres Adoptivsohnes. Weder bevor ich überhaupt in Aidens Leben aufgetaucht bin, noch danach.
»Hey Aiden.« Breit Lächelnd ziehe ich ihn in eine kurze Umarmung, ehe er mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange haucht.
Die letzten Wochen waren anstrengend. Nervenaufreibend und auslaugend. Aber auch genauso aufregend. Es hat eine Weile gedauert, bis Aiden und ich uns Begegnen konnten, ohne andauernd an all das zwischen uns stehende erinnert zu werden, aber schlussendlich hat uns jeder Tag geholfen, an dem wir etwas zusammen unternommen haben. An dem wir gelernt haben, freundschaftlich miteinander umzugehen. Jeder Moment, in dem wir uns in Erinnerung gerufen haben, wie falsch die anfänglichen Gefühle zwischen uns waren, hat uns geholfen so zu fühlen, wie wir es sollten. Wie eine Familie. Wie Geschwister. Und mit jedem Tag beweisen wir genügend Stärke diesen Kampf auch in Zukunft gemeinsam gewinnen zu können.
»Du strahlst heute so«, neugierig mustere ich das aufgeregte Grinsen meines Bruders.
»Ich weiß.« Mehr sagt er nicht. Manchmal ist es genauso schön wie auch nervtötend Aiden jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen.
»Und warum?«, hake ich daher nach.
»Das erfährst du schon noch früh genug.«
Ich will schon etwas erwidern, als Aiden unsere Aufmerksamkeit auf das Büchlein in meinen Händen lenkt. »Hast du wieder ein neues Gedicht geschrieben?«
Glücklich nicke ich. »Ja, eigentlich wie immer, wenn ich hier sitze« Ein kleines bisschen Stolz schwingt in meiner Stimme mit.
Aidens Mundwinkel zucken noch ein Stück weiter nach oben, ehe er nach dem bunt geschmückten Heft greift. Sofort schließe ich es und lasse so die Zeilen, die noch nie jemand zu vor gelesen hat auch für ihn verschwinden.
»Denkst du, ich werde sie irgendwann lesen dürfen?«
Ich weiß wie sehr Aiden das freuen würde. Schon seit längerem interessiert er sich für das, was ich ständig auf die weißen Seiten krizzele. Es ist nicht nur seine Neugier, sondern vor allem ehrliches Interesse. Genauso, wie ich langsam anfange durch die vielen Footballregeln durchzusteigen und Aiden bei jedem Spiel anzufeuern.
Zögernd streiche ich über eines der aufgeklebten Bilder auf dem Cover. »Vielleicht.«
Eine Weile bleibt es ruhig. In aller Seelenruhe fahren meine Finger immer wieder über die zwei kleinen zarten Wesen, die in niedlichen und doch viel zu großen Stramplern auf dem Foto in die Kamera strahlen. Andächtig legt Aiden seinen Arm um mich und beobachtet mein Tun. Dieses Foto bedeutet uns beiden viel. Schließlich zeigt es uns beide nur wenige Wochen nach unserer Geburt und Tage vor Aidens Adoption. Es ist das einzige Kinderfoto, dass wir beide von uns gemeinsam haben. Zusammen mit ein paar anderen Unterlagen und angeblich bei einem Brand vernichteten Fotos habe wir es auf dem Dachboden der Harper's gefunden. Nach dem Streit mit seinen Eltern, hat Aiden alles angezweifelt, an das er sich nicht mehr erinnern kann. So auch das abgebrannte Familienhaus. Es war eine Lüge. Eine Weitere von so Vielen. Warum sie damals nur Aiden und nicht auch mich mitgenommen haben wissen wir nicht. Aber vielleicht bekommen wir eines Tages eine Antwort, wenn wir beide genügend Mut aufbringen können, um mit ihnen sowie Vic und Rich über all das reden zu können. Bis dahin muss uns dieses abgegriffene Foto und die Gegenwart genügen.
Minuten vergehen, bis Aiden seinen Arm von meiner Schulter nimmt und aufsteht.
»Ich gehe mich eben schnell duschen und umziehen. Danach können wir los.«
Ich nicke stumm, erhebe mich ebenfalls und stecke das Notizbuch zurück in meinen Rucksack. Inzwischen zieren ihn immer mehr Löcher. Fast als wolle er mir damit etwas sagen. Und ganz eventuell hat er Recht. Es wird Zeit für einen Neuanfang. In den kommenden Ferien werde ich mich nach einem neuen Rucksack umsehen, der mich fortan begleiten wird.

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