⊱Kapitel 35⊰

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Gähnend stehe ich im Badezimmer vor dem riesigen Spiegelschrank und betrachte träge die riesigen Augenringe unterhalb meiner Lider. Die letzten Stunden oder besser gesagt die letzte Nacht war eine absolute Katastrophe. Zwar kann ich mich nicht daran erinnern, glaube aber felsenfest, dass sich mein Körper wenigstens zwei Stunden des dringend benötigten Schlafs geholt hat. Und das obwohl ich in der gesamten Zeit zuvor kein einziges Auge auch nur ein paar Sekunden zubekommen habe. Zu sehr kreisten meine Gedanken permanent um Aiden. Schlussendlich war es vor allem die Sorge um meinen Freund, die mich Ewigkeiten wachhielt. Dass das Spiel verloren ist, konnte ich mir irgendwann auch ohne seine Bestätigung selbst zusammenreimen. Dass Aiden daraufhin einen ordentlichen, wenn auch unbegründeten, Anschiss seines Dads in Kauf nehmen musste, ist mir genauso bewusst. Aber dennoch. Normalerweise antwortet Aiden immer gleich. Und wenn er es einmal nicht schafft, dann ruft er später definitiv immer an. Doch nichts. Keine Textnachricht, kein Anruf. Auch keiner in Abwesenheit. Einfach nichts. So kenne ich ihn überhaupt nicht. Mir fällt absolut kein Grund ein, weswegen er sich nicht gemeldet hat. Da gibt es nur eine logische Schlussfolgerung. Es muss etwas passiert sein – etwas Schlimmes. Irgendetwas, weshalb er mich offenbar ignoriert und nicht mit mir kommunizieren möchte. Oder es vielleicht gar nicht kann. Diesen furchtbaren Gedanken, dass Aiden vielleicht etwas zugestoßen sein könnte, schiebe ich abermals zur Seite. Viel zu oft hat er mein Herz vor Panik, in der vergangenen Nacht, schneller geschlagen. Wenn es so wäre, dann würde es sicherlich die ganze Mannschaft betreffen und Josie hätte mich längst aufgelöst angerufen, weil sie durch ihren Zwillingsbruder die neuesten Infos, aus dem Gruppenchat oder vom Coach persönlich, erhalten hätte. Das rede ich mir zumindest ein. Dabei bin ich mir gar nicht mal so sicher, ob Ethan den Chat überhaupt noch liest oder die Gruppe bereits auf stumm geschaltet hat. Wundern würde es mich nicht. 

Müde fahre ich mir mit den Händen durch mein Gesicht. Schon lange hatte ich es nicht mehr so eilig zur Schule zu kommen und gleichzeitig so viel Lust, dass ich mich am liebsten direkt wieder dahin verkriechen würde, wo ich herkomme. In mein Bett. Natürlich habe ich keine Motivation. Woher soll ich die auch nehmen. Ganz bestimmt nicht von dieser erholsamen Nacht. Dafür hege ich umso mehr die Hoffnung, dass ich auf meinen Freund treffen werde, um mit ihm zu reden. So kann es ja nicht ewig weitergehen. Ich würde sonst irgendwann unweigerlich wegen Schlafmangel von der Welt gehen. 
Inzwischen ein wenig wacher schlürfe ich aus der Haustür. Das eiskalte Wasser, welches noch vor wenigen Minuten über meine Haut geflossen ist, scheint seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Trotzdem stehe ich so neben mir, dass ich mich beim Einsteigen in den Bus fragen muss, ob ich den ganzen Weg von zu Hause bis hier her in einen kurzen Schlaf gefallen bin und wie von selbst die richtige Strecke gegangen bin. Denn irgendwie fehlen mir sämtliche, bewusste Eindrücke und Erinnerungen an die unmittelbare Zeit nachdem ich meine Füße vor die Tür gesetzt habe. Gut möglich, dass ich aber auch einfach nur viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen bin, um mein Umfeld wahrzunehmen. Wie jeden Morgen werfe ich einen schnellen Blick durch das Innere des Busses. Vielleicht wartet Aiden ja wie jeden Tag mit einem freien Platz auf mich? Vielleicht kann ich mich ja doch auf einen kurzen Begrüßungskuss freuen und seine einzigartigen Grübchen von der Seite anstarren, während er selbst einen Arm um meine Schulter schlingt? Vielleicht könnten wir die Probleme des gestrigen Tages einfach für ein paar Stunden ausblenden und so tun, als hätte seine Mannschaft das Spiel gewonnen und wir beide hätten wie so oft ein wunderbares Telefonat gehabt? 

»Ey, geh mal aus dem Weg. Du blockierst alles!« Der Anrempler reißt mich mit einem Schwung zurück in die Realität. Das sind alles nur Wunschträume. Aiden ist nicht hier, sitzt nicht in diesem Bus und er wird mir auch keinen Platz freihalten. Genauso wenig werde ich gleich seine Lippen auf meinen spüren oder mich in seine Arme kuscheln und sofort dieses wohlige Gefühl von angekommen für immer in mich aufsaugen. Mit einem kurzen Schütteln verwerfe ich diese dämlichen Gedanken und mache endlich das, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen. Ich setzte mich auf den nächstbesten freien Platz. Das Mädchen neben mir lächelt schüchtern und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder dem entzückenden Ausblick der asphaltierten Straße. Ich hingegen erwidere ihre Geste kurz, ehe ich zu dem Typen blicke, der mich eben so blöd von der Seite angemacht hat. Dieser hat nichts Besseres zu tun, als noch immer einen riesigen Aufstand zu machen und damit alle Fahrgäste zu unterhalten. Die meisten würdigen seinem Auftritt nicht einmal einen Blick. Nur ich verfolge, wie er dem Ganzen das Sahnehäubchen aufsetzt. Lautstark und bedrohlich wirkend motzt er ein paar jüngere Schüler an, die angeblich den Stammplatz seiner Jungs in der letzten Reihe einnehmen. Verängstigt stehen diese schließlich auf und bleiben unsicher im Gang stehen. Es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Alle anderen Bänke sind längst belegt. Was ein Idiot. Sein Verhalten wundert mich nicht. Er ist genau der Typ, der das Team Arschlöcher perfekt unterstützt. Und vor allem ist er der Typ, der mich schon an meinem ersten Schultag hier in Effingham niedergemacht hat, bevor ich überhaupt die Highschool betreten konnte. Ich erinnere mich noch genau an den Morgen, an dem ich unschuldig vor dem Fahrplan stand, seine Anhängsel mich musterten und mir sofort klar war, dass sie allesamt etwas gegen mich hatten. Niemals im Leben interessiert ihn der Fahrplan. Wozu auch?  Dieses Arschloch ist dasselbe, dass mich auf Ethans und Josies Feier zu so einem beknackten Partyspiel überreden wollte. Und es ganz nebenbei natürlich nicht geschafft hat. Wenn ich mich nicht irre müsste das Derek Reyes sein. Ethans größter Konkurrent auf dem Feld und eine Persönlichkeit, die weder er noch Aiden ausstehen können. In diesem Punkt muss ich mich den beiden eindeutig anschließen. Derek ist und bleibt ein Idiot. Wie gut, dass ich ihm außerhalb der Schule nicht weiter begegnen muss. Doch während ich an diese flüchtigen Begegnungen mit dem Idioten denke, schleicht sich auch Aiden zurück in meine Gedanken. Unser erstes Aufeinandertreffen hier im Bus. Unsere zahlreichen Gespräche, das gemeinsame Fotoprojekt, der kleine Spaziergang nach der Party, unsere Dates, seine Berührungen, Aidens Nähe. Seufzend versuche ich sie auszublenden. Sie einfach vergessen. Zumindest für diesen verdammten Moment. Murrend erhebe ich mich von meinem Platz. Ich bin so bemüht, dass alles zu ignorieren, dass die Fahrt so schnelle verging wie seit langem nicht mehr. Wenn ich heute jedes Mal so träge meinen Hintern in Bewegung setzte, wird das ein endloser Tag.             

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