Die Buchstaben verschwimmen. Jeder einzelne wird von Sekunde zu Sekunde undeutlicher. Verliert seine Bedeutung so schnell wie die geraden Linien und die geschwungenen Bögen. Sie vermischen sich zu einer unerkennbaren Fläche. Schniefend schaue ich auf. Leider war das eine noch viel schlechtere Idee, als nach all dem, was Aiden mir an den Kopf geworfen hat tatsächlich so schlau zu sein und ernsthaft zu versuchen irgendwie für die bevorstehende Klausur zu büffeln. Denn direkt vor mir, auf der Kommode gegenüber meinem Bett, in dem ich mich die letzten Stunden verkrochen habe, springt mir ein gemeinsames Foto von uns beiden ins Auge. Ausnahmsweise ist es keine von Aidens einzigartigen Bildern. Dieses Mal ist es ein belangloses Selfie, dass wir an irgendeinem Nachmittag geschossen haben. Mein damaliger und auch erster Freund schielt zu mir herüber, während ich die Augen geschlossen halte und ihm einen Kuss auf die Wange drücke. Das Aiden überhaupt sein Handy aus seiner Hosentasche gezogen hat, habe ich erst viel später bemerkt. Genau genommen am Abend, als er auf die Idee kam mir das spontane Selfie zu schicken. Beinahe zupft bei dieser Erinnerung ein schmales Lächeln an meinen Mundwinkeln. Aber eben auch nur fast. Im letzten Moment kann ich es noch verhindern, stattdessen rinnen mir nur noch mehr Tränen über die Wangen. Versickern in meinem Shirt oder tropfen achtlos auf das Schulbuch. Es interessiert mich nicht. Meine Sicht, die sich gerade erst geklärt hat, wird abermals an diesem Tag durch meine glasigen Augen getrübt. Niedergeschlagen schlage ich das Buch zu. Werfe es an das mir gegenüberliegende Bettende und schäle mich mühsam aus meiner Bettdecke. Vollkommen gedankenverloren setzte ich einen Fuß nach dem anderen auf den flauschigen Bettvorleger und stehe schließlich auf. Sofort vermisse ich diesen einen Geruch. Den, in den ich mich bereits seit Stunden suhle. Immerhin sind kaum mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem Aiden mein Bett verlassen und damit diesen wunderbaren Duft hinterlassen hat. Eine Note aus rauem Shampoo und einfach Aiden. Plötzlich sind sie wieder da. Vielleicht waren sie aber auch nie weg. Die feuchten Tränen. Warum tut er das? Verletzt mich so sehr und gibt mir dafür nicht einmal eine vernünftige Erklärung? Spuckt mir diesen ekelhaften Namen wortwörtlich vor die Füße und redet, als wäre ich das abfälligste, das er jemals gesehen hat? Das klingt so gar nicht nach Aiden, meinem ja was eigentlich? Im Augenblick würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass wir noch zusammen sind oder zusammengehören, aber etwas gegenteiliges hat bisher auch keiner von uns ausgesprochen. Seitdem ich die Flucht aus der Schule angetreten habe drehen sich meine Gedanken im Kreis. Wie ein Riesenrad aus dem man nicht aussteigen kann. Es gibt nur eine Richtung, kein Stoppschild und keinen Ausweg. Da ist immer nur Aiden. Die Frage nach dem warum? Was ist passiert? Die Frage nach der Zukunft. Wie geht es weiter? Für mich, für ihn und für uns. Für uns als Paar? Jedes Mal spricht der Wärter des Fahrgeschäftes ein klares Wort. Er hat keine Lösung und wird auch keine finden, um das dämliche Riesenrad anzuhalten. Die Abwärtsspirale zu stoppen, in der ich immer weiter versinke. So oft ich die Dinge auch hin und her biege. Ich habe keine Antwort. Nicht eine einzige auf eine der tausenden Fragen, die in mir toben. Auf einmal ist da mehr als nur diese Trauer. Die Verzweiflung lässt mich wütend werden. Sie ist in diesem Moment mächtiger als alle anderen Gefühle. Ich bin versucht dieses dämliche gerahmte Bild von meiner Kommode zu fegen. Ich hole schon aus, als mir Aidens lächelndes Gesicht fast die Augen auskratzt. Als würde es flehen, dass ich es lieber lassen soll. Fest presse ich die Zähen aufeinander. So fest, dass sie das Knirschen anfangen. Nur widerwillig lasse ich meinen Arm sinken und drehe das Bild stattdessen bloß um.
Vielleicht starre ich einen Moment zu lange auf die schwarze Rückseite des Rahmens, um direkt wieder in meine Gedanken zu fliehen. Schwarz. So fühlt es sich tatsächlich gerade an. Wie ein schwarzes Loch, in das ich immer weitergezogen werde. Das scheine ich nicht als einzige so zu sehen. Denn im selben Augenblick nehme ich das laute Plätschern wahr. Dicke Regentropfen prallen mit jeder Windböe an meiner Fensterscheibe ab. Vereinen sich zu einem schmalen Rinnsal und klettern schließlich Pore für Pore den Weg hinab. Über die Fassade des Hauses bis hin zu ihrem endgültigen Ziel. Dem Erdboden. In letzter Zeit regnet es ziemlich oft. Vielleicht ist der Wettergott ja tatsächlich bei mir und hat versucht mir versteckte Signale zu schicken. Mich vorzuwarnen, dass das Band zwischen Aiden und mir sehr bald reißen würde.
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too close
Teen FictionLyn, ein junges eher in sich gekehrtes Mädchen wird unverhofft adoptiert. Mit dem Umzug in einen fremden Bundesstaat muss sie ihr altes Leben hinter sich lassen. Besonders schwer fällt ihr der Abschied von ihrer besten Freundin. Denn Alli ist die ei...