⊱Kapitel 15⊰

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Nachdem sich Aiden offenbar wirklich beeilt hat, befinden wir uns nur wenige Minuten später auf dem Weg zu ihm nach Hause. Mehr als nur einmal hat er mir angeboten den Bus zu nehmen oder ein Taxi zu rufen. Und mehr als nur ein Mal habe ich ihm diesen Quatsch wieder ausgeredet. Er hat nicht weiter nachgefragt und trotzdem spüre ich deutlich, wie er sich noch immer fragt, warum ich ein solches Angebot abgelehnt habe. Dabei bin ich gar nicht mal so abgeneigt davon gewesen den halben Fußmarsch zurück zu den Harpers gefahren zu werden, allerdings konnte ich nur allzu sehr darauf verzichten, mich abermals mit Aiden in einen dermaßen engen Raum zu quetschen. Ohne Fluchtmöglichkeiten wohlgemerkt. Also schlendern wir stillschweigend durch die von Häusern gesäumten Straßen, die sich dennoch so wahnsinnig leer anfühlen. Am heutigen frühen Abend scheint kaum eine Menschenseele unterwegs zu sein. Nur wir zwei Idioten sind da wohl mehr oder weniger freiwillig anderer Meinung. Dass das vor allem Aiden nicht so ganz in den Kram passt merke ich in jenen Augenblicken, in denen er seine schwere Sporttasche von der linken auf die rechte Schulter verlagert und den Griff nur noch krampfhafter mit der Hand umklammert. Und während ich ihn ab und an aus dem Augenwinkel mustere, starrt er nur vor sich her. Mitten ins nichts. Ihm ist nur allzu deutlich anzumerken, wie er den Zorn und den Ärger herunterschluckt. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass sie mit seinen Problemen zu Hause einhergehen. Und irgendwie tut er mir ja schon ein bisschen leid. Immerhin begleiten ihn seine Eltern nicht zum wichtigsten Spiel der Saison und anstatt ihm dann wenigstens seine Freizeit zu lassen, damit er mit seinen Freunden feiern kann, zitieren sie ihn nach Hause, damit er auf Ava, seine kleine süße Schwester, aufpassen kann. Mit der Zeit beschleicht mich immer mehr das Gefühl, dass seine Eltern gar nicht mitbekommen, was sie da in Wirklichkeit anrichten. Ich denke, sie wollen einfach nur allem gerecht werden und verlieren dabei ständig das Offensichtliche aus den Augen. Sie arbeiten hart und viel, um ihren Kindern ein Vorbild zu sein. Dass sie es damit manchmal allem Anschein nach durchaus übertreiben merken die Beiden genauso wenig, wie sie es schaffen, sich um ihre beiden Kinder gleich zu kümmern.
»Übrigens danke«, merkt Aiden im Gehen an und schenkt mir nur einen kurzen Seitenblick.
Dennoch hat er mich auf diese Weise erfolgreich aus meinen Gedanken zurück in die Realität katapultiert.
»Für?«
Einen Moment lang zögert er, als würde er sich seine Worte gut zurechtlegen und für einen anderen Augenblick aufbewahren.
»Alles Lyn. Aber auch, dass du heute nicht mit den anderen gehst.« Ein Lächeln zieht an meinen Gesichtsmuskeln.
»Schon gut. Ich dachte du solltest so einen Sieg auch nicht ganz allein feiern müssen.«
Das mir das Football Match eigentlich relativ egal ist, behalte ich für mich. Denn ich wäre in so einer Situation wohl so oder so mit ihm gegangen. Einfach weil ich inzwischen weiß, was er innerlich gerade durchmacht und fühlt. Nur, dass ich nie erfahren habe, wie es sich anfühlt plötzlich von seinen Eltern zurückgestellt zu werden. Alles, was ich weiß ist, dass ich es sich verdammt ätzend anfühlt verstoßen zu werden. Von den Leuten, die einen eigentlich am meisten lieben sollten. Oft genug habe ich ganze Nächte mit diesen Gedanken verbracht, ohne auch nur ein Auge zu schließen.
»Du hättest aber nicht mitkommen müssen. Das weißt du hoffentlich, auch wenn es mich freut.«
Die Wut scheint auf dem Rückmarsch zu sein. Aidens Lächeln kehrt so langsam aber sicher auf seine Lippen zurück. Ich nicke nur. Schon wieder so angezogen von seiner Anwesenheit und dem faszinierenden Wechselspiel seiner Emotionen, bin ich drauf und dran einmal mehr die Augen nicht von dem eisblauen Meer lösen zu können. Ich bin so sehr abgelenkt, dass ich viel zu spät bemerke, dass wir schon bei ihm zu Hause sind und er dir Tür längst aufgeschlossen hat.
»Lyn? Alles okay?«, irritiert legt Aiden seine Stirn in Falten.
»Ja, äh alles gut«, stammle ich und bin auf einmal schon wieder so verlegen. Ich hoffe nur, dass mir nicht gleich auch noch die Röte in die Wangen schießt. Er tritt einen Schritt zur Seite, sodass ich ihm folgen kann. Sofort kommt uns seine Mom entgegen.
»Gott sei Dank Aiden. Da bist du ja endlich. Wir sind verdammt spät dran.«
Sehr nette Begrüßung, denke ich, während ich meine Schuhe ausziehe und sie sorgfältig neben die Anrichte im Flur stelle. Elizabeth scheint in all dem Stress nicht einmal aufgefallen zu sein, dass ihr Sohn nicht allein ist. Entweder das oder sie will es einfach nicht merken. Demnach möglichst unauffällig verharre ich schräg hinter Aiden, der im selben Moment zur Treppe raufblickt, die gerade ein durschnittlicher Mittvierziger im Anzug die herunter stolziert. Aidens Dad. Hastig rückt er seine Krawatte zurecht und setzt sich auf die unterste Stufe, um sich die Schuhe zu binden. Erst da wird er auf seinen Sohn aufmerksam.
»Na mein Sohn. Wie liefs?«
Der Besagte mahlt die Kiefer aufeinander. »Gut«, presst er gezwungenermaßen hervor.
Mr Harper steht auf und klopft Aiden einmal kurz flüchtig auf die Schulter. »Ich wusste, dass ihr sie abzieht.«
Kein Lächeln, kein Stolz, keine Ehrlichkeit. Nichts davon wiegt in seiner Stimme mit, die so kalt und monoton wie die unsere Mathelehrerin erklingt. Einzig und allein der Fakt, dass ihn der Ausgang des Spiels kaum überrascht ist klar zu hören. Dabei vermute ich, wie bereits vorhin, dass er es absolut nicht so herzlos meint, wie es rüberkommt. Vielmehr ist er genauso gestresst wie Elizabeth, die ich eigentlich viel entspannter in Erinnerung hatte.
»Also Aiden. Ava schläft, wo alles steht weißt du ja.«
Aiden verzieht angewidert das Gesicht und murmelt sowas wie ein kaum hörbares: »Mhmh.«
»Ich denke wir sind spätestens gegen halb zwölf wieder da. Kann aber auch später werden.«
»Und stell mir bloß keinen Blödsinn an Aiden«, warnt sein Dad und geht dann ohne weiteres zur Tür heraus.
Mitleidig schaut Elizabeth zwischen ihm und mir hin und her und scheint mich nun erstmals zu registrieren, sagt aber nichts. Wahrscheinlich ist ihr das ganze Chaos gerade einfach nur sehr unangenehm.
»Bis später. Viel Spaß«, hetzt sie direkt weiter zur Garderobe und kehrt noch einmal um, um ihren Sohn in eine kurze Umarmung zu ziehen, während ihr leichter Sommermantel nur zur Hälfte auf ihrer Schulter hängt. Ich meine ein geflüstertes »Entschuldigung« von ihr zu hören, bin mir aber auch nicht ganz sicher. Dann spaziert auch sie zur Tür heraus.
Zurück bleiben ein enttäuscht wirkender Aiden, der wohl aber nichts anderes erwartet hat und eine verwirrte Version meiner selbst.
Ironisch lacht Aiden auf einmal auf. »Das Lyn, war übrigens mein Dad, Elliot. Er liebt Football und vor allem seinen dämlichen Job. Für seinen Sohn hat er im Moment so viel über, wie für seine Frau, die ihm zu einem Geschäftsessen hinterherläuft, um wenigstens ein paar Stunden mit ihm zu verbringen.«
Mitfühlend gehe ich erst einen, dann zwei Schritte näher zu ihm und lege Aiden beruhigend meine Hand auf den Arm.
»Ich glaube sie duldet es eher, als dass sie es wirklich befürwortet. Damals beim Mittagessen war deine Mom ganz anders.«
»Ich weiß«, er nickt zusätzlich. »Mein Vater hat sich in den letzten Monaten irgendwie verändert. Genau genommen, seitdem er mehr Verantwortung auf der Arbeit bekommen hat.«
Ich antworte nicht. Was sollte ich auch dazu sagen?
»Deshalb weiß ich, dass er es nicht absichtlich macht. Das ändert aber nichts daran, dass es sich trotzdem scheiße anfühlt.«
»Das glaube ich dir«, gebe ich ihm die Zustimmung, die er so dringend braucht.
»Ganz vielleicht mache ich mir auch ein paar Sorgen um meine Schwester. Ich weiß, das kam bisher nicht so ganz rüber, aber im Grunde habe ich sie wirklich gerne. Ich will nicht, dass sie nie eine andere Seite von Dad kennenlernt. Macht das Sinn?«
Ich nicke. »Ja das macht es. Sie würde nur seine eine Seite kennen und sie sich entweder zum Vorbild nehmen oder deinen, euren Dad dafür hassen«, mutmaße ich.
»Ja.« Aiden wendet sich mir vollends zu. »Lass uns das Thema wechseln, okay?«
»Okay«, antworte ich und nehme überhaupt nicht wahr, wie nah wir uns auf einmal schon wieder sind.
So verdammt gefährlich nah. Unausweichlich kreuzen sich unsere Blicke und ich befeuchte grundlos meine Lippen, nur um sie kurz darauf zu teilen. Sein Blick ist so intensiv und einzigartig. Für einen Moment scheint die Welt um uns herum still zu stehen und Aiden immer näher zu kommen. Nervös schlucke ich, um mich von dem Gefühl in meinem Bauch abzulenken.
»Ich könnte uns einer dieser miesen Pizzen bestellen«, schlägt er plötzlich vor und lässt die hitzige Stimmung mit einem Mal verpuffen, ehe er ein Stück zurückweicht.
Erneut schlucke ich, dieses Mal merklich.
»Gerne.«
Aiden nickt nur und verschwindet in die Küche zum Haustelefon. Ich hingegen starre ihm nach, versteinert und unbeweglich. Was zur Hölle war das schon wieder? Ich schüttele die letzten verbleibenden Zellen meines Verstandes ab, der mir deutlich macht, dass ich mich künftig lieber von Aiden fernhalten sollte, wenn ich kein Risiko eingehen will, dass mir meine Vergangenheit irgendwann um die Ohren fliegt.

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