⊱Kapitel 31⊰

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Bibbernd halte ich Aidens Hand so fest ich kann. Der Regen prasselt nur so auf uns ein. Der Wind wird immer rauer und das laute Grollen des Donners kommt immer näher. Blätter und Äste gehen gefährlich zu Boden. Meine Haare kleben so sehr an meinen Wangen, dass sie mir die halbe Sicht auf den Weg vor mir versperren. Meine ohnehin schon schmerzenden Füße stecken in vollkommen nassen Schuhen. Inzwischen bin ich mir sicher - das wird Blasen geben. Immer wieder spreche ich mir dringend benötigten Mut zu. Wir sind bald da. Wir sind bald da. Anders hätte ich vermutlich längst aufgegeben. Aiden läuft so schnell, dass er mich mehr hinter sich herzieht, als dass ich in meinem eigenen Schritttempo laufe. Es wäre eine glatte Lüge, wenn ich behaupten würde, dass mir nicht mit jedem weiteren Schritt immer mehr die Puste ausgeht. Und die Kraft. Denn wenn ich eines nicht habe. Dann ist es Ausdauer. Zumindest nicht bei dieser Geschwindigkeit und der Tatsache, dass ich die gleiche Strecke vor ein paar Stunden schonmal hinter mich gelegt habe. Die angestaute Luft verlässt lautstark meine Kehle. Doch Aiden bleibt keine Möglichkeit sie zu hören. Dafür ist das Rascheln der Blätter im Wind und die stechenden Regentropfen viel zu dominant. Ich könnte auch einfach etwas sagen, mich bemerkbar machen, aber eigentlich möchte ich nur so schnell wie möglich von hier verschwinden. Und wenn ich dafür den matschigen Boden, auf dem ich abermals fast ausrutsche, knutschen muss, dann ist das eben so. 

Erleichterung macht sich in mir breit, als ich schließlich den Rand des furchteinflößenden Waldes erblicke. Nur noch ein winzig erscheinendes Stück liegt zwischen der Zivilisation und mir. Auf dem geschotterten Wanderparkplatz lasse ich Aidens Hand dann doch los. Die meinen finden ihren Weg auf meine Oberschenkel, stützen sich ab. Diese dämliche, mit wasser vollgesaugte Kühltasche landet auf dem Boden. Schnaufend ringe ich nach Luft. Der warme Sommerregen lässt mich frieren. Meine Jeans klebt an mir wie eine zweite Haut. Ich werde sie wohl nie wieder ausziehen können. Meine Lungenflügel brennen. Es fällt mir schwer überhaupt einen Atemzug zu machen. Mein Herz rast. Schlägt so sehr in meiner Brus, dass es weh tut. Noch nie habe ich das rauschende Blut so deutlich an meinem Hals wahrnehmen können. In diesem Moment bete ich, dass nicht auch noch meine zitternden Beine nachgeben. Immer wieder ist der ferne Donner zu hören. Jedes Mal lässt er mich zusammenzucken. Sogar in dieser unmöglichen Position. Abrupt bleibt Aiden neben mir stehen. Im Gegensatz zu mir scheint ihm das meilenweite Rennen überhaupt keine Probleme verschafft zu haben. Zwar hebt und senkt sich auch sein Brustkorb, unter dem inzwischen durchsichtigen, weißen Shirt, schneller als üblich, bildet allerdings keinen Vergleich zu dem halb auf dem feuchten Kies hängenden ich. Sein sorgenvoller Blick ruht auf mir. 
»Alles in Ordnung Lyn?« 
Noch immer nach Luft schnappend, presse ich mühsam hervor: »Geht schon.« Mein Herzschlag erholt sich nur ziemlich langsam.
»Das sehe ich. Wenn wir so weiter gehen, dann brichst du mir wirklich noch zusammen.« 
Sachte versuche ich mich wieder aufzurichten, während Aiden den Rucksack absetzt, um ihn gleich darauf vor sich erneut zu schultern. Ich kann nur mutmaßen, was das werden soll. Ehrlich gesagt wäre ich ihm gerade sehr dankbar, wenn ich Recht behalte.
»Los spring auf.« Aiden geht vor mir in die Hocke und klettere schließlich doch auf seinen Rücken. 
Ohne zu zögern greift er auch noch nach der Tasche.
»Aiden, das ist zu viel. Du kannst nicht den Rucksack, die Tasche und auch noch mich tragen.«
Doch Aiden hört gar nicht erst auf mich. Stattdessen geht er einfach los.
»Bevor dir was passiert trage ich dich lieber. Und das Gewicht bleibt das Gleiche. Egal ob du die Tasche hast oder ich.«
Irgendwie hat er ja Recht. Also ziehe ich es nicht einmal in Erwägung zu widersprechen. Lieber halte ich mich an meinem Freund fest und beobachte, wie der Regen sich seinen Weg von Aidens, durch das Wasser nun mehr kaum gelockten, Haar über seine wunderschönen Gesichtszüge sucht, nur um an seiner Nasenspitze urplötzlich herab zu fallen und in dem Stoff des Rucksackes zu versinken. 

Erst vor meiner Haustür setzt Aiden mich ab. Das Unwetter scheint langsam abzuziehen. Der Donner ist kaum noch zu hören und der Regen wird dünner. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich es geschafft habe diesen blöden Schlüssel aus der engen Jeans zu fischen. Im Flur bleiben wir stehen. Aiden stellt den Rucksack und die Tasche ab, ich schlüpfe aus meinen Schuhen. Die Dinger kommen wirklich geradewegs aus der Hölle. 
»Gehts dir ein bisschen besser?« Auch Aiden befreit sich von seinen Wanderstiefeln. 
Ich nicke. »Danke.« 
»Das war selbstverständlich Lyn. Du hättest auch ruhig schon eher etwas sagen können.« 
Wieder nicke ich. Denn er hat Recht. Hätte ich, wollte ich aber nicht. 
»Wir sollten aus den nassen Sachen raus. Ich könnte schauen, ob ich in Richards Kleiderschrank was Passendes für dich finde.« 
Dankbar sieht Aiden mich an. »Ist gut. Ich hole uns derweil Handtücher.« 
Barfuß tapsen wir beide die Treppe empor. In der Hoffnung nicht das ganze Parkett voll zutropfen. 
Richards Kleiderschrank ist zu meinem Leid zum größten Teil mit Hemden und eleganten Jeans gefüllt. Jogginghosen und einfache Shirts sind ziemlich rar. Aber am Ende habe ich Glück und finde gerade so doch noch etwas Gemütliches für Aiden. In der Kommode liegt Gott sei Dank jede Menge Unterwäsche. Wahllos greife ich ein paar Socken und eine Shorts. Misstrauisch klaube ich die Sachen zusammen und trete in den Flur. Ich habe keine Ahnung, ob Aiden die Klamotten überhaupt passen. Zu klein wäre dabei schlimmer, als zu groß. Gedankenverloren öffne ich die Tür zum Badezimmer. Und erstarre. Aiden steht nur mit einem Handtuch bekleidet vor mir. Die angenehme Wärme, die mir aus dem Raum entgegenströmt lässt mich erröten. Wobei das vermutlich eher an Aiden liegt. Er scheint schnell unter die Dusche gesprungen zu sein und bemerkt nun auch mich. Während es mir noch immer die Sprache verschlagen hat, grinst Aiden nur wissend. 
»Ich habe ein paar trockene Sachen für dich auftreiben können.« 
Lächelnd nimmt Aiden sie entgegen und reicht mir im Gegenzug ein Handtuch. Aufrichtig mustert er mich. »Tut mir leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe.«
»Schon okay Aiden«, antworte ich wahrheitsgemäß. Denn es ist wirklich in Ordnung. Immerhin ist er mein Freund. Wo ist also das Problem. Ganz im Gegenteil. Es wäre nicht richtig, zu behaupten, dass mir nicht gefallen hat, was ich gesehen habe. Diese Situation kam nur ziemlich unerwartet, sehr überraschend. Mehr nicht.  Doch Aiden wirkt ein bisschen misstrauisch. 
»Wirklich. Es ist alles in Ordnung«, bestätige ich ihm eindringlich. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er mir immer noch nicht so ganz glauben will. Warum auch immer. Jedenfalls will auch ich endlich aus den durchnässten Klamotten und beginne also damit mich mühsam aus der hautengen Jeans zu schälen. Mir entgeht nicht, dass Aiden mich aus dem Spiegel die gesamte Zeit über beobachtet, während er tarnend seine Haare zu kämmen versucht. Als ich mich endlich in das flauschige Duschtuch wickle werde ich direkt in wärme gehüllt. Endlich hat das Frieren ein Ende. Auch Aiden hat nun die Bürste zur Seite gelegt. Grinsend wende ich mich zur Tür, um schleunigst in meinem Zimmer zu verschwinden und etwas kuschligeres anzuziehen. Aus irgendeinem Grund könnte ich schwören, dass Aiden mir hinterherguckt. 

Ohne mir großartig Gedanken über meine Auswahl zu machen ziehe ich eine graue Jogginghose und einen Hoodie aus meinem Kleiderschrank. Einen, den ich ewig nicht anhatte. Dafür war es schlicht zu warm. Auf der Vorderseite des weinroten Pullovers springt mir der Aufdruck meiner alten Highschool entgegen. Auch, wenn ich sie definitiv nicht vermisse, fehlt sie mir irgendwie doch. Vor allem Alli. Wir hatten für diese dämlichen Hoodies damals jeden Cent gespart, nur um die »Coolen« zu ärgern. Ihrer Meinung nach trugen nur die Streber und Außenseiter diese Dinger. Es muss sie ziemlich verärgert haben, dass wir ausnahmsweise zurückfeuerten, denn danach hatten wir beide eine ganze Woche lang unsere Ruhe. Bevor ich noch sentimental werde, drücke ich die frischen Sachen schmunzelt an mich und mache mich auf den direkten Weg zurück ins Bad. Weit komme ich jedoch nicht, denn direkt vor meiner Tür werde ich geblendet. Kann nur noch helle Punkte in der Dunkelheit erkennen. Erschrocken zucke ich zusammen. Ein Wunder, dass mein Handtuch noch da sitzt, wo es hingehört. Mir wird sofort klar wer und was das war.
»Sie funktioniert noch.« Stolz zeigt mir, ein inzwischen vollständig bekleideter, Aiden das aufgenommene Foto. 
»Ah ja«, kommentiere ich nur und blinzle ein paar Mal, um endlich wieder normal sehen zu können. 
»Wie wäre es, wenn du guckst ob dein Handy auch noch funktioniert und uns eine Pizza bestellst, während ich schnell unter die Dusche springe?«
Aiden lässt die Kamera sinken. »Klingt gut. Wobei es noch besser klingen würde, wenn ich mit dir gehe.« Lasziv grinsend greift er nach einer meiner zur Hälfte getrockneten, verknoteten Haarsträhnen.
Kopfschüttelnd haue ich mit meiner Jogginghose nach ihm. »Spinner. Da gehe ich schön alleine hin.« 
Lachend macht er einen Satz zurück und streckt abwehrend seine Hände in die Luft, als ihn der graue Stoff trifft.
»Jaja, schon klar. Ich bestelle uns Pizza.«
Ich stimme kichernd in sein Lachen mit ein und verschwinde dann schnell im Bad, bevor Aiden auf die Idee kommt, mir doch noch zu folgen.

Später liegen wir beide auf der Couch. Schauen irgendeine bekloppte Realityshow und vertilgen unsere Pizzen. Wie sehr mich dieser Tag angestrengt hat, merke ich jetzt. Meine Beine fühlen sich schwer an, wie Blei. Und insgesamt bin ich einfach fertig mit der Welt. Vollkommen ausgelaugt. Ich bringe nicht einmal die Kraft auf, nach der Fernbedienung zu greifen, obwohl das Fernsehprogramm uns beide nervt. 
»Aiden.«
»Ja?«
»Der Tag war trotzdem wunderschön. Auch, wenn der Rückweg ein bisschen aufregend war.«
Aiden stellt die leeren Kartons zur Seite und zieht mich noch näher an sich. Meinen Kopf lasse ich müde auf seine Schulter fallen.
»Das stimmt. Aber normal kann jeder. Ich bin mir sicher, dass wir diesen Ausflug so schnell nicht vergessen werden.«
Wie Recht er hat. Diesen Tag werde ich definitiv nicht wieder vergessen. Ich möge fast behaupten, dass es der interessanteste Tag seit langem war. Vor allem, weil keiner von uns beiden damit gerechnet hatte. Es war ein absolutes Abenteuer. Mit ein paar überwundenen Tiefen. Doch eins weiß ich sicher. Ohne Aiden hätte ich das nicht geschafft. Ohne ihn wäre ich niemals rechtzeitig aus dem Wald, geschweige denn nach Hause gekommen. 
»Mein Abenteurer«, flüstere ich, während meine Lider immer schwerer werden und schließlich zu fallen. Eng an Aiden, den besten Freund der Welt, gekuschelt drifte ich schließlich ins Land der Träume ab.

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