⊱Kapitel 8⊰

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Seit diesem merkwürdigen Moment und dem Prickeln, welches Aiden am Samstagabend auf meiner Haut hinterlassen hat, sind nicht einmal achtundvierzig Stunden vergangen. Den gesamten Sonntag habe ich damit zugebracht, mit Alli zu telefonieren, Vic beim Backen zu helfen und ein paar Nachrichten an Jo zu schicken.
Eigentlich wollte ich direkt nach dem Mittagessen in den Park bei uns um die Ecke aufbrechen und an meinen Gedichten schreiben. Nicht zuletzt an der Idee, die mir am Samstag im Wald spontan in den Sinn gekommen war. Aber so ist das nun einmal im Leben. Nicht immer läuft alles nach Plan, so, wie man es sich am liebsten wünscht.
Immerhin habe ich den Montagvormittag einigermaßen unbeschadet überstanden. Aiden hat mich nur kurz freundlich gegrüßt und das Aufeinandertreffen in der Mensa konnte ich geschickt umgehen. Vielleicht ist es Schicksal, dass mein Sportlehrer ausgerechnet heute krank geworden ist und wohl ein, zwei Wochen ausfallen wird.
Eine Stimme tief in mir, teilt dieses Glück nicht ganz so bedingungslos. Denn da ist dieser winzige Teil, der mir einzureden versucht, dass ich sehr wohl, sehr gerne die Mittagspause mit Aiden an einem Tisch verbracht hätte. Auch wenn es mit hoher Wahrscheinlichkeit verdammt peinlich gewesen wäre. Und genau da versuchte mein Verstand zu kontern. Denn entweder hätte mich Aiden nicht einmal beachtet, sich mit Essen vollgestopft und sich mit Ethan unterhalten oder sich mir so sehr aufgezwungen, dass es fast noch unangenehmer geworden wäre, als wenn er mich einfach ignorieren würde. Damit meine ich die ständigen Blicke, die er mir im letzteren Fall zugeworfen hätte, dieses tiefe Lächeln oder der missbilligende Blick als Antwort auf dämliche Kommentare, die sein Ansehen in meiner Gegenwart deutlich schmälern könnten. Wenn wir aber mal ganz ehrlich sind, dann würde er mir vermutlich mit der kühlen Art, hinter der er sich so gut wie immer versteckt begegnen, sodass der gesamte Gefühlszauber niemals auch nur seine eisblauen Augen erreichen könnte. Und genau deshalb wäre es für uns beide einfach zu gefährlich unser Mittagessen am selben Tisch zu uns zu nehmen. Wir würden uns beide derart verbrennen. Selbst die lauwarmen Maccaroni, die es heute angeblich geben soll, würden daran nichts ändern können. Meine Anwesenheit würde die Mauer um Aiden ganz sicher zum Einstürzen oder zumindest in Wackeln bringen.
Denn so wie es mir scheint, bin ich bisher die Einzige, die die warme und emotionale Seite an ihm entdeckt hat. Es steht mir nicht über seine Freunde zu urteilen, aber mit den Jahren lernt man die Menschen zu lesen und zu begreifen, was sie wissen und was für sie vielleicht auf ewig im Dunkeln verborgen bleiben wird. Auf eine seltsame Art und Weise habe ich das Bedürfnis, Aiden dabei unterstützen zu wollen, dass seine verletzliche Hälfte für seine Freunde auch weiterhin eine Zone ohne Zugang bleibt. Ich bezweifle, dass er seine Mitmenschen gut genug kennt, um sich jemals bei mir zu revanchieren. Und selbst wenn seine Mauer stabiler sein sollte, als ich zu glauben wage, würde mich die Situation in eine riesige Welle Unbehagen stürzen. Ich würde unter seinen Blicken wohl oder übel die Gesichtsfarbe wechseln, mir verlegen die Haare hinters Ohr streichen oder mich durch ihn so sehr ablenken lassen, dass ich Jo´s Anwesenheit und die der anderen vollkommen vergessen würde. Die Gespräche um mich herum würden verstummen, Fragen nicht einmal bemerkt werden und ich würde erst aus meiner Trance gerissen, wenn Jo mich auf die Schulter tippt und mich fragt, was los ist. Völlig überfordert würde ich in meinem Mittagessen herumstochern und wie die letzte Idiotin dastehen. Bei diesem Gedanken blitzt kurz Aidens selbstgefälliges Grinsen vor meinem inneren Auge auf. Ein Grinsen, dass ich seit Freitag nicht mehr gesehen habe. Wie dem auch sei, es wäre so oder so für uns beide eine wirklich ungünstige Situation. Da kam mir Jo's Angebot ganz recht.

Inzwischen unterhalten wir uns seit fast zwei Stunden über Gott und die Welt und schlendern dabei durch die überfüllte Mall. Genau das Richtige für mich. Wie gerne würde ich diesen ätzenden Ort gegen den ruhigen, leeren und beruhigenden Wald, dessen Wege von unzähligen Baumarten gesäumt werden vom Samstagnachmittag eintauschen? Noch einmal die Freiheit an dem kleinen See spüren? Den Sonnenuntergang von dort aus beobachten? Am liebsten zusammen mit Aiden. Fast alles würde ich dafür geben. Sehnsüchtig seufzend stelle ich die kreisrunde Tasse zurück auf die Untertasse und streiche andächtig mit dem Daumen über den Milchrückstand am Tassenrand.
»Alles okay?«, misstrauisch beäugt mich Jo über den Kaffee in ihren Händen hinweg.
»Ja, alles super. Ich war nur kurz in Gedanken.« Ich würde nicht behaupten, dass uns jemals die Gesprächsthemen ausgehen werden, aber stundenlang über den neusten Klatsch und Tratsch zu sprechen strengt einen wirklich an. Vor allem, wenn die Gespräche tiefgründiger werden und man mit der Zeit über seine Vergangenheit ausgefragt wird. Das schlimmste daran ist, dass ich Jo so sehr vertraue und sie mir offenbar auch, sodass ich sie niemals anlügen könnte. Also habe ich mich einfach geschickt rausgeredet und gewisse Dinge ausgelassen. Verheimlichen ist nicht so sträflich, wie die Wahrheit zu verdrehen. Jedenfalls habe ich so erfahren, dass Ethan ein paar Minuten älter als Jo ist und sie damit andauernd aufzieht. Mindestens genauso häufig versucht er sie zu beschützen und stößt damit mehr als oft genug auf Granit. Außerdem hatte sie im Gegensatz zu ihren Freundinnen nie die Ambitionen Cheerleaderin zu werden. Jo macht eben lieber gar nichts oder sitzt wie ich auf der Tribüne und schaut zu. Sie erklärte mir sogar wortwörtlich, dass sie auf diese Weise genauso gut dafür sorgt, dass ihr süßer Hintern in Form bleibt. Mein darauffolgendes Augenverdrehen war wohl nur allzu offensichtlich gewesen. Sie vertraute mir auch an, dass sie nach der Highschool nicht vor hat an eine der renommiertesten Universitäten zu gehen, sondern viel lieber eine Ausbildung machen würde und sich vorstellen könnte, später vielleicht sogar einmal aus Illinois fort zu ziehen. Ethan weiß davon nicht, was auch so bleiben soll und ihre Eltern reagierten gereizt, als sie es das erste Mal so richtig erwähnte. Wenn ich das höre bin ich fast froh, nie welche gehabt zu haben. Niemand, der mir versuchte meine Zukunft auszureden oder mich derart bevormundete. Mit der Volljährigkeit hätte sich das Thema erledigt gehabt.
Auch, wenn es Jo gegenüber nicht unbedingt fair ist, erzählte ich kaum etwas. Den meisten zu persönlichen Fragen wich ich aus. Innerlich machte ich mir eine Notiz, mir dringend eine einheitliche Vergangenheit auszudenken, die zwar der Wahrheit entspricht, aber eben nicht zu viel von meinem alten Leben Preis gibt. Die würde ich dann jedem erzählen, der fragt. Klingt eigentlich ziemlich plausibel. Alli würde jetzt garantiert sagen: »Kein Wunder, war ja auch meine Idee.«
Dabei würde sie ihr gespieltes arrogantes Lächeln zu Tage fördern und mich so zum Lachen bringen.

»Achso, was ich noch gar nicht erwähnt habe«, Jo macht eine Pause, trinkt einen Schluck und spricht weiter. »Ethanund ich haben am Donnerstag Geburtstag und er veranstaltet am Samstag eine riesige Party. Unsere Eltern sind auf Geschäftsreise.«
»Okay« Ich nicke zart und lasse es wie eine Frage klingen, da ich nicht so ganz weiß, was sie von mir will.
Hoffentlich wird das keine Einladung. Ich mag Jo und ihre Freunde wirklich gerne, auch Ethan, aber eine Party? Mit Aiden! Rauscht es mir durch die Gedankenbahnen. Bevor ich meine Gedanken weiter vertiefen kann, erzählt Jo einfach weiter. Vermutlich bemerkt sie meine Unsicherheit.
»Ethan würde sich sicherlich freuen, wenn du vorbeischauen würdest. Außerdem könntest du die anderen besser kennenlernen oder einfach ein bisschen Spaß haben.« Sie grinst, als würden ihre Überlegungen abschweifen. »Lachen, trinken, was auch immer dein Herz begehrt.«
Ein Abend also? Lachen? Trinken? Das klingt für mich eher so, wie die ganzen Feiern in den Romanen in meinem Bücherregal. Lachen steht vermutlich für die ganzen bescheuerten Spielchen, die erst funktionieren, wenn alle Anwesenden längst stockbesoffen sind. Was dann wohl Punkt zwei »Trinken« voll und ganz erklärt. Am Ende gibt es bestimmt auch noch diese roten Becher, mit denen man sich dann durch die tanzende Masse quetschen muss, nur um überall Pärchen zu sehen, die völlig gefühlsverloren alles blockieren, um sich gegenseitig die Zunge in den Hals zu stecken. Und wenn man dann doch mal die laute Musik und die vor Alkohol und Schweiß stinkende Luft hinter sich gelassen und den Weg nach draußen in die Freiheit gefunden hat, friert man sich in der nächtlichen Kälte den Hintern ab. Meine absolute Traumvorstellung eines Samstagabends. Andererseits ist es ja nur ein Abend, nur ein einziges Mal. Für Ethan, für Jo, für mich. Denn wenn Vic und Rich erfahren, dass ich auf eine dieser Partys gehe, glauben sie vielleicht endlich, dass ich im sozialen Mittelpunkt angekommen bin.
»Also gut. Ich überleg es mir.«
Jo nickt zufrieden und legt ein paar Scheine auf den Tisch. Dann ziehen wir weiter und machen uns einen halbwegs schönen Mädels Tag. Shoppen, dummes Zeug reden und einfach nicht an die schwer überwindbaren Hürden unseres Lebens denken. Ganz egal ob Studium, Ausbildung, Aiden oder diese verdammte Party. All die Gedanken wandern für die nächsten Stunden erfolgreich in die verschollene Gegend unserer Köpfe.

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