⊱Kapitel 29⊰

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Gelangweilt kritzle ich kleine Karikaturen an den Rand meines Collegeblockes. Der schier endlos erscheinende Unterricht soll angeblich in fünf Minuten zu Ende sein. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass die Zeit vermutlich stehen geblieben sein muss. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso die letzten Minuten so schleppend voranlaufen. Seufzend opfere ich mich und würdige unserer Lehrerin doch einen flüchtigen Blick. Immerhin sieht es so aus, als würde mich ihre einseitige Unterrichtsdiskussion interessieren. Dabei gibt es nur eine einzige Sache die mich wirklich interessiert. Mathematische Formeln sind es definitiv nicht. Alles was mich im gegenwärtigen Moment interessiert ist meine Verabredung mit Aiden. Vic und Rich werden später für ein paar Tage wegfahren. Geschäftlich natürlich. Es hat ewig gedauert, bis ich sie überhaupt davon überzeugen konnte, dass es mir wirklich nichts ausmacht ein paar Tage alleine zu Hause zu verbringen. Schließlich bin ich alt genug. Außerdem kommt es mir inzwischen ziemlich gelegen. Denn so müssen Aiden und ich uns nicht ständig heimlich bei ihm treffen, sondern können zur Abwechslung auch mal unser Sofa im Wohnzimmer in Beschlag nehmen. Der einzige Haken an der Sache ist, dass Vic darauf bestanden hat jeden Tag mindestens einmal zu telefonieren, um sich davon zu überzeugen, dass es mir auch wirklich gut geht. Aber ehrlich gesagt kann ich damit ganz gut leben.
Natürlich könnte ich auch einfach mit den beiden reden, aber ich bezweifle, dass es zielführend wäre direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. Denn in dieser Hinsicht kenne ich die beiden einfach noch nicht gut genug. Ich habe absolut keine Ahnung wie sie reagieren würden. Ob sie sich einfach nur freuen würden, Aiden herzlich aufnehmen und ihn genauso ins Herz schließen würden wie ich oder ob sie sich eher mit Ethan zusammentun könnten. Er versteht ziemlich viel von diesem Beschützerding. Und genau davor habe ich riesige Angst. Ich weiß nicht, was es mit Aiden und mir machen würde, wenn sie solche Sprüche wie »die Tür bleibt offen« oder »ich hole dich um zehn Uhr ab« bringen würden. Die Zweifel stecken tief. Insgeheim glaube ich schon, dass sie eher glücklich sein und uns unseren Freiraum geben würden, aber ganz genau wissen kann ich das zu diesem Zeitpunkt nicht. Also werde ich das Thema Beziehungen langsam und behutsam anschneiden, sobald Vic und Rich zurück sind. Im Verdrängen war ich schließlich schon immer gut. Und solange ich das Gespräch vorerst einfach unter den Tisch kehre, beleibt mir umso mehr Zeit, die ich mit Aiden verbringen kann. 

Zu meinem ganz persönlichen Glück reißt mich die Klingel aus meinen Gedanken. Meine Sitznachbarn und Mitschüler beginnen ihre Sachen zusammenzupacken, nur um im nächsten Moment hektisch und unkontrolliert aus dem Raum stürmen zu können. Klar es ist Freitag, das heißt Wochenende, da will natürlich jeder schleunigst von hier weg, aber trotzdem kann man sich meiner Meinung nach wie ein normaler Mensch verhalten. Da ich allerdings befürchte, dass die meisten Schüler an der Highschool, vollkommen egal ob hier oder in Walla Walla, sowieso geistig in der dritten Klasse stecken geblieben sind, sollte mich dieses Theater eigentlich überhaupt nicht wundern. Etwas ruhiger als die anderen mache auch ich mich daran meine Sachen zusammen zu klauben. Wie so oft bin ich die letzte, die den menschenleeren Raum verlässt. Einzig und allein unsere Lehrerin sitzt noch hinter ihrem Pult und macht sich offenbar noch irgendwelche Notizen. 
»Ein schönes Wochenende Ihnen.« Lächelnd gehe ich auf die Tür zu. Schon von weitem kann ich Aiden an der Wand lehnen sehen. 
»Danke, dir auch Lyn.« Ihr herzliches Lächeln, lässt mich fast bereuen in ihrem Unterricht so gut wie nie aufzupassen.
Wenn ich das Jahr nicht wiederholen will, dann sollte ich vielleicht wirklich langsam etwas ändern. Denn unter diesen Voraussetzungen würde wohl nicht einmal eine ansatzweise gute Note auf meine Leistungen bekommen. Zu Recht. In meinem Kopf mache ich mir eine gedankliche Notiz in der nächsten Zeit Aiden oder Josie zu fragen, ob sie mir diese ganzen verwirrenden Formeln erklären können. Aber mal ganz ehrlich. Wer steigt da auch noch durch. Zahlen, Buchstaben, jede Menge Gesetze. Von mir aus könnte unser gesamter Stundenplan nur aus Deutsch und Kunst bestehen. In hochachtungsvollen Texten versinken und mit Graphit Kunstwerke erschaffen. Die Vorstellung ist so anziehend, dass ich zusehe diesen verdammten Klassenraum zu verlassen, bevor ich noch anfange verträumt auf die Tische zu starren.
Als auch Aiden mich entdeckt, kommt er lächelnd auf mich zu. »Na woran denkst du?«
Oh Mist. Aiden muss mich wohl längst gesehen und beobachtet haben. Wenn es nicht nur mein Freund wäre, dann würde ich jetzt wohl so leuchtend rot werden, wie die Tafelkreide, die Mrs-Mathe-ist-mein-Leben immer nutzt. 
»An nichts weiter. Nur daran, wie ich dich gleich beim Kochen beobachten werde.«
Mit hochgezogener Augenbraue und diesem süßen Welpenblick schaut Aiden zu mir herab. »Bitte tu mir das nicht an. Du weißt ich kann nicht kochen.«
Triumphierend grinse ich wie eine Bekloppte vor mich her.
»Stimmt, deshalb wird es ja für mich umso lustiger.« Während ich mich längst in Bewegung gesetzt habe, steht Aiden noch immer wie festgewachsen auf ein und demselben Fleck. 
»Ist was? Oder hast du vor hier zu übernachten.«
Kopfschüttelnd setzt Aiden sich dann doch in Bewegung. »Brooklyn Wright.«
Ich schnappe schon entsetzt nach Luft und will gerade protestieren, als ich meinen vollständigen Namen höre, als Aiden mir längst einen Finger auf die Lippen legt. 
»Ich liebe dich. Habe ich dir das eigentlich schon mal gesagt.«
Lächelnd nehme ich seinen Finger von meinen Lippen und verschränke stattdessen unsere gesamten Hände ineinander. 
»Hast du. Wenn ich mich recht erinnere zuletzt heute in der Mittagspause, als ich mir ein Stück Schokolade von dir stibitzt habe.« 
Kurz schaut Aiden auf unsere verflochtenen Finger hinab, ehe er mit seiner freien Hand flüchtig über meine Wange streicht. 
»Und ich könnte dir noch dutzende Male sagen, wie sehr ich dich liebe. Glaub mir, ich werde nie müde sein, dir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.«
Verlegen wende ich einen Wimpernschlag lang den Blick ab. »Wieso bist du eigentlich immer so«, ich suche nach den richtigen Worten, doch sie wollen mir patu nicht einfallen. »So neija so-.«
»Ja?«, abwartend durchbohrt mich Aidens fragender Blick.
»So klug eben.«
Es ist nicht unbedingt das was ich sagen wollte, aber im Grunde genommen weiß ich ja nicht einmal, was ich überhaupt sagen wollte. Aber Aiden schafft es einfach immer wieder seine Worte so weise zu wählen, dass sie ihren direkten Weg in mein Herz finden. 
»Klug also?« Seine eiserne Miene bekommt nicht einmal einen Kratzer. 
»Ach egal. Vergiss es einfach. Lass uns los. Ich habe einen Bärenhunger.« Wie aufs Wort beginnt mein Magen zu knurren. 
Aiden stimmt nickend zu, sodass wir uns Hand in Hand auf den Weg zu mir nach Hause machen. Richard ist bereist dabei die Koffer im Auto zu verstauen, als wir schließlich ankommen. 

too closeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt