»Nein, nein und nochmal nein«, aufgebracht laufe ich im Wohnzimmer auf und ab, während Victoria ruhig an der Lehne der Couch stützt, auf der er es sich Richard bequem gemacht hat.
»Aber Lyn, das wird bestimmt-.«
Ruckartig bleibe ich stehen und drehe mich zu den beiden um. »Vergiss es«, schneide ich ihr verdammt wütend das Wort ab.
»Aber-«, versucht Vic abermals mich zu überzeugen.
»Vic, lass sie doch«, redet Rich seiner Frau absolut neutral ins Gewissen.
Ganz offensichtlich hält auch er nicht allzu viel von Victorias Plänen. Sie ist immerhin allen Ernstes der Ansicht, dass es endlich an der Zeit wäre, dass ich den Rest der Familie kennen lerne. Für mich kommt das keineswegs überraschend. Ewig kann ich mich schließlich nicht davor drücken, aber jetzt gerade oder in den nächsten Wochen fühle ich mich dazu definitiv nicht bereit. Ich bin ja schon glücklich darüber, dass ich den dämlichen Weg zum Bus finde und die ein oder anderen Leute kennen gelernt habe, damit ich nicht allzu blöd dastehe. Mal wieder wird mir bewusst, wie unterschiedlich meine Adoptiveltern doch sind. Während Richard mir jede Menge Verständnis schenkt, werde ich von Vic eher mit Sorge überhäuft und zu dem gedrängt, was ihr gerade in den Kram passt. Zwar glaube ich nicht, dass sie es in irgendeiner Art und Weise böse meint und dennoch kann ich mich mit Bevormundung nicht so ganz anfreunden. Noch immer den Zorn in den Knochen steckend verschränke ich meine Arme vor der Brust. Gedanklich zähle ich bis zehn. Angeblich soll das helfen, sich in Extremsituationen zu beruhigen. Das sagt zumindest Allison. Ich wage also einen letzten Versuch, Vic meinen Standpunkt zu erklären, in der tiefen Hoffnung, dass sie es endlich versteht. »Vic, mir geht es doch gar nicht um eure Familie selbst. Ich würde sie natürlich gerne kennen lernen. Irgendwann, aber eben nicht jetzt. Das wäre mir im Augenblick einfach alles ein bisschen zu viel.« Meine Stimme erscheint mir auf einmal viel leiser als noch wenige Sekunden zuvor.
Im Grunde möchte ich weder Vic noch Rich vor den Kopf stoßen. Aber der Grad, um seine eigenen Empfindlichkeiten mit denen anderer so zu vereinen, dass alle glücklich sind, gleicht einer Herkulesaufgabe. Vic setzt zum hundertsten Mal an diesem, mal wieder viel zu warmen, Nachmittag zum Sprechen an, verschluckt die Worte aber, bevor sie ihr über die Lippen kommen. Stattdessen schließt sie einmal kurz die Augen, atmet tief durch und verlässt ohne jede Bemerkung den Raum. Mein Blick folgt ihrem plötzlichen Abgang und sofort fühle ich mich schlecht und schuldig. Ich hätte einfach zustimmen und das Abendessen mit der Familie über mich ergehen lassen sollen. Vielleicht ist das das nützliche Wissen, welches man als Tochter in der Kindheit gratis dazu bekommt. Nur hatte ich nie die Chance diese Erfahrungen zu sammeln und somit die passenden Reaktionen von den unangebrachten zu trennen. Jedenfalls nicht, wenn es um darum geht, es den Eltern recht zu machen. Oder, wie man sich bei einem solchen besagten Abendessen mit der ganzen Familie verhält. Für derartige Erkenntnisse müsste man nämlich erst einmal eine haben. Und bis vor kurzem war meine einzige Familie Alli. Wir beide hatten uns, das hat gereicht. Die ganzen Betreuer waren nicht mehr, als gute Bekannte und strenge Lehrer. Die Mitbewohner nicht mehr, als die lästigen Schüler oder Mitleidenden. Wir saßen alle im gleichen Boot. Aber hier ist es anders. Ohne Vorwarnung sitzt man auf der nagelneuen Couch eines Ehepaares wie aus dem Bilderbuch und muss sich indirekt dazu nötigen lassen, Leute kennen zu lernen, die man im Moment überhaupt nicht treffen will.Seufzend lasse ich mich auf dem Sessel gegenüber von Richard nieder und ziehe die Beine an meinen Körper, ehe ich sie mit meinen Armen umschlinge und mein Kinn auf den Knien ruhen lasse.
»Sie versucht nur alles richtig zu machen. Victoria gibt sich wirklich große Mühe, aber manchmal weiß sie einfach nicht, wann sie den Bogen überspannt«, Rich macht eine Pause und beugt sich ein Stück zu mir vor. »Sie kann nicht wissen, wie es ist, wenn man so sehr ins kalte Wasser geworfen wird. Darum geht es doch, habe ich Recht?«
Stumm nickend antworte ich ihm. Einen Augenblick lang herrscht Stille. Ich starre vor mich hin, während Rich die Finger ineinander verschränkt und zu überlegen scheint.
»Weißt du was Lyn? Ich rede später noch einmal mit ihr. Ich bin mir sicher, dass Victoria einlenken wird. Sie hat ein großes Herz und würde nicht wollen, dass du dich unwohl oder überfordert fühlst.«
Wieder nicke ich, als mir eine so lange totgeschwiegene Frage auf der Seele brennt. »Aber wenn Vic es nicht besser weiß, woher weißt du es dann so genau?« Neugierig wie ich bin, fällt mir erst hinterher auf, wie direkt diese Frage doch eigentlich ist.
Entgegen meiner Erwartungen lehnt sich Rich wieder zurück und klopft neben sich auf die Couch. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ich mich zu ihm setzten soll. Er schaut mich eindringlich an und fängt an über seine Vergangenheit zu erzählen: »Ach Lyn. Ich hatte es früher nicht leicht. Als ich klein war ist mein Vater abgehauen. Meine Mutter hatte es nicht leicht mit mir. Aus Geldnot ist sie schließlich an die falschen Leute geraten und ganz weit abgerutscht.« Während er einfach nur spricht, beginnen seine Augen langsam glasig zu schimmern. Es fällt ihm sichtlich schwer darüber zu reden, sodass ich mich für meine Fragerei am liebsten direkt in den Hintern treten würde. »Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht magst.«
Rich schüttelt den Kopf und schwelgt weiter in den emotionalen Erinnerungen. »Auch wenn wir es nicht leicht hatten, war sie immer für mich da. Sie war eben meine Mom. Aber eines Tages ist sie abends mal wieder gegangen und nie zurückgekehrt.« Richard schluckt merklich. Ich kann es förmlich hören.
»Ist sie?« Ich muss es einfach wissen.
»Nein, aber sie ist abgehauen, weil sie glaubte, dass ich ohne sie besser dran wäre. Damals war ich gerade mal zwölf. Die Lehrer haben sofort gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte. Schließlich kam ich in eine Pflegefamilie. Fortan wurde ich ständig in den Familien herumgeschubst, war nirgends länger als ein paar Monate.« So langsam dämmert es mir, weshalb er mich so gut versteht und warum die beiden ausgerechnet mich zu sich geholt haben.
»Und da wolltest du, dass es jemand besser hat als du. Jemand, der kein kleines Kind mehr ist?«
»Ganz genau Lyn.« Er nickt, um seine Worte zu unterstreichen.
»Ich finde es schrecklich, dass andauernd nur junge Kinder oder Babys adoptiert werden. Es kam mir nicht richtig vor, im Vergleich zu meinen Erlebnissen und dem, was ich eigentlich wollte.«
Tief im Inneren glaube ich zu verstehen, was er meint.
»Ich finde, Kleinstkinder stehen Leuten zu, die sich so gerne eine Familie wünschen, aber keine haben können. Für jemanden wie dich Lyn, der sein ganzes Leben in einem Heim verbracht hat, braucht es meiner Meinung nach Bezugspersonen, die verstehen worüber sie sprechen.«
Seine Erklärung bestätigt meine Vermutung.
»Danke, dass du mir das erzählt hast. Du willst vermutlich genauso wenig Mitleid wie ich, aber es tut mir trotzdem leid, was dir passiert ist.«
Dieses Mal ist es Rich, der wortlos nickt.
»Hast du deine Mutter eigentlich jemals wiedergesehen?«
Zu gerne würde ich das wissen. Vor allem, weil ich mich frage, was er ihr vielleicht gesagt hat oder liebend gerne mal mitteilen würde. Aber anders als nach seiner offenen Erzählung erwartet, steht er einfach auf, drückt leicht meine Schulter und verschwindet zur Tür heraus.
»Ich bin froh, dass du jetzt Bescheid weißt. Ich schaue mal nach Victoria«, er wendet sich endgültig zum Gehen, hält dann aber doch noch mal inne. »Ach und Lyn.«
»Ja?«
»Manchmal ist es besser die Dinge so zu belassen wie sie sind, als ewig an ihnen fest zu halten. Man sollte sie einfach gehen lassen und mit ihnen abschließen. Sich den Kopf darüber zu zerbrechen bringt nichts. Ich bin stolz auf sie. Ihren Mut und ihre Tapferkeit. Trotz allem kann ich zu ihr aufblicken. Aber wenn sie wüsste, wie es mir ergangen ist, würde sie sich noch mehr Vorwürfe machen als eh schon und ihre Hoffnung, dass ich es besser hatte würden sich vollends in Luft auflösen. Ihre Illusion in der Luft zerplatzen. Alles passiert aus einem bestimmten Grund und manche Dinge sollen eben einfach nicht sein. Das ist das Schicksal.« Ohne auf meine Reaktion zu warten geht er endgültig. Aber seine Worte sind mir längst Antwort genug und wenn ich so darüber nachdenke, dann hat er Recht. Was würde ich meiner leiblichen Mutter bloß sagen, wenn ich ihr gegenüberstehen würde? Würde ich sie anschreien? Oder sie bewundern? Würde sie sich schuldig fühlen, weil sie sich mehr für mich gewünscht hätte? Oder wäre sie froh, dass es mir halbwegs gut geht? Hätte sie ihr Leben inzwischen im Griff und bereut es, mich abgegeben zu haben? So viele Fragen schwirren plötzlich durch meine Gedanken, dass es mir schwer fällt sie beiseite zu schieben und mir darüber bewusst zu werden, dass ich wohl niemals eine Antwort auf sie bekommen werde. Allmählich zweifle ich daran, ob ich das überhaupt jemals wollen würde.
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too close
Teen FictionLyn, ein junges eher in sich gekehrtes Mädchen wird unverhofft adoptiert. Mit dem Umzug in einen fremden Bundesstaat muss sie ihr altes Leben hinter sich lassen. Besonders schwer fällt ihr der Abschied von ihrer besten Freundin. Denn Alli ist die ei...