Verschlafen wische ich mir über meine Augen, die sich so langsam an das viel zu grelle Licht in meinem Zimmer gewöhnen. Ein flüchtiger Blick auf den Wecker verrät mir, dass es schon kurz vor neun ist. Oder in meinem Fall, erst kurz vor neun. Ich habe definitiv viel zu wenig geschlafen. Und das liegt nicht nur an der Tatsache, dass ich erst weit nach Mitternacht ins Bett gegangen bin. Viel mehr war es seine Schuld. Nachdem er mich sicher durch die Dunkelheit nach Hause gebracht hatte, war meine Müdigkeit plötzlich vollends verschwunden. Aus irgendeinem Grund fehlte mir Aiden direkt. Dieses Mal fiel seine Verabschiedung deutlich distanzierter aus. Anders als am vorherigen Samstag, gab er mir keinen sanften Kuss auf die Stirn, sondern schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln.
»Gute Nacht Lyn. Schlaf gut«, lächelt Aiden, ehe er den Arm von meiner Schulter nimmt und sich zum Gehen wendet.
»Gute Nacht«, entgegne ich nur knapp.
Während er viel zu schnell den Abstand zwischen uns vergrößert nickt er mir kaum sichtbar zu lächelte noch einmal eine Spur breiter. Dann verschwindet er in der Nacht, sodass die in mir aufsteigende Hitze augenblicklich durch eine Eiseskälte ersetzt wird. Dennoch schaue ich ihm eine Weile hinterher, bis er schließlich in die nächste Seitenstraße biegt.
Aiden hat mir heute Abend so viel gegeben. Er hat meine Gedanken nicht nur vorübergehend von den bösen Dämonen, die mich immer wieder einzuholen scheinen, befreit. Nein, viel mehr hat er mir die Gewissheit geschenkt, dass seine Abneigung keineswegs böse gemeint war. Ganz im Gegenteil. Strahlend trotte ich ins Haus und schleiche mich leise in mein Zimmer. Überglücklich aber auch erschöpft lasse ich mich in das weiche Federkissen fallen. Eingehüllt in diese prickelnde Wärme, fällt es mir schwer überhaupt ein Auge zu schließen.Mindestens genauso umständlich ist es sie an diesem Morgen offen halten zu können. Im Gegensatz zu Aidens Verabschiedung an jenem Abend, wirkte diese von außen betrachtet deutlich kühler. Aber das war sie nicht. Die Luft um uns herum war viel hitziger und der Augenblick viel intensiver, als je zuvor. Ich wusste, dass er sich bemühte mich nicht allzu sehr zu bedrängen und sich deshalb zurückhielt. Nach diesen ereignisreichen Stunden und der Wendung unseres gegenseitigen Umgangs war ein einfaches Lächeln durchaus angebracht. Allergings war es so viel mehr. So ehrlich, liebevoll und gefüllt von den verschiedensten Glücksgefühlen. Dieses Lächeln, das er mir schenkte war mehr, als jeder Kuss auf die Stirn es jemals ausdrücken könnte. Am liebsten würde ich den ganzen Tag daran denken und gar nicht erst aufstehen. Zu groß wäre die Angst, dass irgendjemand mein Dauergrinsen zu Sicht bekommt. Aber es hilft alles nichts. Denn ausgerechnet heute möchte Victoria die Blumenkästen auf der kleinen Veranda neu bepflanzen. Und ich Volltrottel habe natürlich, hilfsbereit wie ich bin, liebend gerne zugestimmt ihr dabei unter die Arme zu greifen. Es wäre ja halb so schlimm, wenn ich nicht gestern relativ spontan auf Ethans Party gewesen wäre. Und Vic absagen kommt für mich absolut nicht in Frage. Ich will sie auf keinen Fall enttäuschen, indem ich mich als unzuverlässig zeige oder meine Versprechen breche. Denn das machte ich nicht, niemals. Seufzend quäle ich mich aus meinem kuscheligen Bett und schlüpfe möglichst unauffällig ins Badezimmer gegenüber, um mich wenigstens ein bisschen frisch zu machen.
»Guten Morgen.«
Frisch geduscht und etwas munterer als noch vor wenigen Minuten betrete ich die Küche.
»Guten Morgen Lyn«, Vic schaut kurz lächelnd zu mir, ehe sie sich wieder der Rührschüssel vor ihr zuwendet.
Mein Blick bleibt für einen Moment an der länglichen Kuchenform hängen, schweift dann aber zu dem einzelnen Gedeck am Küchentisch.
»Danke«, murmel ich und setze mich an meinen gewöhnlichen Platz.
Erleichtert nehme ich einen großen Schluck aus der Kaffeetasse vor mir, während ich Vic beobachtet, die gerade den Kuchen in den Ofen schiebt.
»Gerne. Rich ist schon weg. Er trifft sich kurzfristig mit einem alten Freund, der nur für kurze Zeit hier in der Stadt ist.« Sie nimmt auf der anderen Seite des Tisches Platz und beäugt mich neugierig. Ich spüre sofort, dass ihr irgendetwas auf der Zunge liegt, aber ich würde garantiert nicht auch noch danach fragen. Wenn sie mich auf etwas ansprechen möchte, dann kann sie das gerne tun. Wenn nicht, dann eben nicht.
Unbeirrt greife ich nach dem Croissant im Brötchenkorb und beginne zu frühstücken. Vics Blick verriet, dass sie kurz davor ist, vor Neugier, zu platzen. »Wie war die Geburtstagsfeier?«, fragt sie mich dann doch noch, als ich schon gar nicht mehr damit rechne.
Daher weht also der Wind. Kurz denke ich einmal mehr an den gestrigen Abend zurück. An die Party, an Aiden. »Gut«, antworte ich knapp.
Ich glaube Vic denkt immer noch, dass wir den ganzen Abend auf der Couch saßen, uns mit Pizza und anderem ungesunden Zeug vollgestopft und ein paar schreckliche Filme geschaut haben. Ihr Grinsen verrät mir, dass ich mit dieser Annahme wohl ziemlich daneben liege. Dennoch schweige ich. Was gibt es auch schon groß zu berichten?
»Und was habt ihr gestern Abend noch gemacht?”«
Erst nachdem ich meine Worte ausgesprochen habe, frage ich mich, ob ich das überhaupt so genau wissen will.
»Ach nicht viel. Wir waren bei den Nachbarn und haben später noch ganz gemütlich einen Film angeschaut.« Vic zieht eine Grimasse.
Ich muss kichern. »Lass mich raten, er war grausam?«
Sie nickt und hält sich die Hand vor den Mund, um ihre Belustigung zu verbergen. Unaufgefordert erklärt sie mir warum, sodass ich gut verstehen kann, dass ihr Abend wohl nicht einmal ansatzweise so erfreulich war, wie meiner. »...Und dann gab es so eine dämliche Verfolgungsjagd. Total überzogen. Da hat er doch allen Ernstes versucht die betrunkene Schwester seiner Frau umzubringen.« Sie verdreht lachend die Augen.
Der Sarkasmus in ihrer Stimme ist definitiv nicht zu überhören.
Ich weiß genau, was sie meint. Solche Filme beginnen immer mit irgendeiner Eifersuchtsgeschichte und enden immer gleich – in einer einzigen Katastrophe.
Trotzdem verblasst mein Lächeln recht schnell. Zusammen mit den Bildern von gestern, die ich noch nicht ganz verbannen konnte, überkommt mich plötzlich ein Anflug der Panik.
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too close
Teen FictionLyn, ein junges eher in sich gekehrtes Mädchen wird unverhofft adoptiert. Mit dem Umzug in einen fremden Bundesstaat muss sie ihr altes Leben hinter sich lassen. Besonders schwer fällt ihr der Abschied von ihrer besten Freundin. Denn Alli ist die ei...