⊱Kapitel 27⊰

122 8 8
                                    

Stille. Absolute Stille. Sekunden vergehen und doch scheint die Zeit still zu stehen. Da ist nur das Rascheln der Blätter im sanften Wind. Die Bank auf der wir noch immer sitzen wirkt wie isoliert. Als gebe es den Rest der Welt überhaupt nicht.  Die Wahrheit ist gesagt, doch Aiden scheint, als bräuchte er noch einen Moment um sie zu verstehen. Ich muss seine Gedanken überhaupt nicht lesen können, um seinen strahlenden Augen die Verwirrung anzusehen.
»Lyn, dass-.« Aiden unterbricht sich selbst und legt beim Sprechen eine gedehnte Pause ein. Unsicher schlucke ich jene Worte, die ich vielleicht hätte sagen wolle oder sollen hinunter und folge stattdessen seiner Hand, die behutsam nach meiner greift. 
»Dass kam irgendwie überraschend und unerwartet.«
Unwissend, was ich darauf antworten soll nicke ich und bleibe stumm. 
»Ich dachte eben wirklich, du würdest mich abservieren wollen. Hier mitten im Nichts, nach all der schönen Zeit, die wir beide schon zusammen verbracht haben.«
Erschrocken blicke ich von unseren Händen auf, nur um seine eigentliche Befürchtung mit Blitzen im Keim zu ersticken. 
»Tut mir leid, dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe. Ich weiß selbst, dass es nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt war, um über meine Vergangenheit zu sprechen, aber ich musste es einfach loswerden, bevor ich mich nicht mehr traue.«
Dieses Mal ist es Aiden der still nickt und seine freie, rechte Hand an meine Wange legt, ehe er sich zärtlich z streicheln beginnt. 
»Wieso hast du Angst, dich nicht mehr zu trauen. Es ist doch so gesehen nichts Schlimmes. Nicht wofür du dich schämen müsstest oder geheim halten solltest.«
Sein wachsamer Blick liegt auf mir, als ich nicht anders kann, als bei seinen Worten die Lider zu senken. Zum ersten Mal frage ich mich, ob ich mich wirklich dafür schäme oder ob ich nur einfach der Ansicht bin, dass es niemanden etwas angeht. Was ändert es denn schon, wenn alle es wissen? Nichts. Nichts, als dass ich als das abgeschobene Heimkind gelte, dem jede Menge Mitleid in die Tasche geschoben werden muss. Aiden scheint mein Unbehagen nicht entgangen zu sein.
»Oder schämst du dich etwa wirklich dafür, dass du adoptiert bist?«
Mein Schweigen ist ihm offenbar Antwort genug. 
»Lyn, das ist doch kompletter Schwachsinn. Das deine Eltern gar nicht wirklich deine Eltern sind ändert doch nichts an eurer Beziehung. Es ändert nichts an dir. Du bist und bleibst die Lyn, die du bist. Die Lyn mit dem schönsten Lächeln der Welt, sein Daumen wandert nur leicht an meine Mundwinkel, doch sofort breitet sich ein schmales Lächeln auf meinen Lippen aus, die Lyn mit den weisen Worten, die ihr kluges Köpfchen nutzt, um mich zu durchschauen. Den wahren Aiden zu sehen. Die Lyn, die einfach jeden verzaubert und der man einfach nicht böse sein kann, der Lyn, die-.«
Ich unterbreche ich noch immer zaghaft lächelnd. »Aiden, du schmeichelst mir, wirklich. Aber ich glaube ich habs kapiert.«
Nun scheint auch Aiden ein wenig glücklicher. »Das ist gut. Aber versuch es dir trotzdem zu Herzen zu nehmen. Du musst es ja niemanden direkt auf die Nase binden, aber genauso wenig musst du es vor jedem geheim halten.«
Zwar verstehe ich, was er mir damit sagen möchte, dennoch weiß ich, wie schwer es ist solche Situationen zu handhaben. 
»Aiden das habe ich schon oft genug durch. Die meisten reagieren mit Mitleid. Wollen mich beschützen oder machen sich lustig. Bisher wurde ich immer verletzt, wenn es jemand erfahren hat. Auch wenn die Leute es nur gut meinen, es tut weh. Ich bin schließlich ein ganz normaler Mensch und war auch ein ganz normales Kind. Nur eben ohne richtige Eltern. Damals im Heim waren diese Kommentare am Schlimmsten. In der Schule war ich immer nur das Heimkind.«
Verständnisvoll nickt Aiden und zieht mich noch näher zu sich, ehe er die Hand von meiner Wange nimmt und seinen Arm um mich legt. »Jetzt bin ich ja an deiner Seite, um dich genau vor solchen Leuten und Worte zu beschützen.«
So dumm es vielleicht auch klingt, aber Aidens Art beruhigt mich ein bisschen. Denn ich weiß, wie ernst er seine Worte meint. Zum ersten Mal bin ich froh mein Geheimnis mit ihm geteilt zu haben. 
»Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber vielleicht magst du mir ja ein bisschen davon erzählen.«
Mir entgeht nicht, wie Aiden zögert das Wort Heim in den Mund zu nehmen. 
»Du meinst, bevor mich Vic und Rich adoptiert haben?«
Aiden nickt nur. Sagt nichts. Aber das muss er auch gar nicht. Ich fange einfach an zu erzählen: »Eigentlich habe ich mein gesamtes Leben im Heim verbracht. Brooklyn Rodriguez. Ich habe diesen Namen gehasst. Er gehört einfach nicht zu mir, mich verbindet nichts mit ihm. Absurd, wenn man bedenkt, dass ich inzwischen manchmal komisch finde, wenn man mich mit Mrs Wright anspricht.« In Gedanken schwelgend atme ich aus. »Über meine leibliche Mutter weiß ich so gut wie nichts. Francessca. Das soll wohl ihr Name sein. Ich glaube, sie kam einfach aus zu schlechten Verhältnissen, als das sie um mich sorgen konnte oder die Verantwortung tragen wollte. Ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Als Kind habe ich oft darüber nachgedacht und an mir gezweifelt, aber inzwischen habe ich mit dem Thema abgeschlossen. Es ist wie es ist. Francessca Rodriguez existiert für mich nicht. Das hat sie nie. Wochen, Monate gar Jahre vergingen, in denen ich versuchte einen Tag nach dem anderen zu überstehen. Irgendwann stand dann plötzlich Allison in meiner Tür. Seit jenem Tag sind wir unzertrennlich. Während alle Kinder um uns herum nah und nach verschwanden. Die Chance auf eine bessere Zukunft hatten, verbrachten wir Geburtstag für Geburtstag und Weihnachten für Weihnachten zusammen. Meistens allein. Di meisten anderen Kinder in unserem Alter konnten wir nicht leiden. Soweit ich weiß beruhte das auf Gegenseitigkeit. In der Schule habe ich mich irgendwie durchgeschlagen. Genug Zeit zum Büffeln hatte ich ja schließlich. Irgendwann fand ich den Ausgleich in meinen Gedichten. Sie waren der einzige Ort, an dem ich loslassen konnte. Tja und dann war er plötzlich da. Der Tag vor gut einem halben Jahr. Als die Wrights mich plötzlich adoptieren wollten. Ich dachte es wäre ein dummer Scherz der anderen, aber dann standen sie auf einmal wirklich vor mir. Seitdem sitzt Alli allein in diesem Backsteingebäude mitten in der Einöde Walla Wallas fest.«
Mit diesen Worten beende ich meine lange Kurzfassung. Aiden hat sich die ganze Zeit über nicht gerührt, sondern nur interessiert zugehört. Er sieht aus, als wolle er etwas sagen, wisse aber nicht genau wie. 
»Lyn, das tut mir wirklich schrecklich leid. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, was ich großartig dazu sagen soll. Außer danke. Danke, dass du mit mir darüber gesprochen hast. Das bedeutet mir ziemlich viel.«
»Das kann es auch. Abgesehen von Alli habe ich noch nie jemanden in der Art erzählt.«
»Lyn, es ist wirklich schön, dass du mir so vertraust. Das macht mich wirklich glücklich. Du machst mich glücklich. Und will, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Du kannst mit mir immer über alles reden. Vor allem darüber. Wenn du einfach nur reden willst, dann höre ich dir zu, wenn du einfach jemanden brauchst der da ist steht meine Tür jederzeit offen. Und ich weiß, dass es andersrum genauso ist. Du liest mich, wie kein anderer es tut. Du bringst mich jedes Mal zum Strahlen, auch wenn mein Dad mich mal wieder kaum beachtet. Mit dir bin ich einfach besser Lyn.«
Gerührt von seinen Worten fällt es mir schwer eine Freudenträne zurückzuhalten, gebe mir aber dennoch beste Mühe. Ich habe absolut keinen Schimmer, was er vorhat, aber es sieht nicht so aus, als würde er nichts mehr zu seinen Worten hinzufügen. 
»Brooklyn, Lyn Wright oder Rodriguez, wie auch immer du es gerade am schönsten findest. Ich liebe dich. Von ganzen Herzen. Das ist mir inzwischen klar. Ich tue es von Anfang an. Seit dem Sonnenuntergang an jenem Abend. Willst du meine Freundin werden?«
Seine letzten Worte sind kaum mehr als ein Flüstern. Und doch so fest und überzeugt. Alles in mir schreit und tobt. Fliegt durch meinen Körper und hinterlässt das altbekannte Kribbeln. So glücklich, wie mit Aiden war ich schon lange nicht mehr. Also zögere ich keine Sekunde. »Ich liebe dich auch Aiden Harper. Und Gott verdammt ja, ich will deine Freundin sein.«
Aidens eisblauen Augen beginnen in der Dunkelheit zu leuchten, sein Strahlen trifft mich direkt ins Herz. Wärmt mich und macht mich glücklich. Nun kann ich nicht mehr verhindern, dass nicht doch eine winzige Freudenträne den Weg über meine Wange bahnt, die Aiden liebevoll mit seinem Finger davonwischt. Denn Aiden hat Recht. Egal, wass passiert ist, es ändert nicht an mir, nichts an meiner Art und schon gar nichts an meinen Gefühlen für ihn.

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
too closeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt