Ich verstehe nichts. Überhaupt gar nichts. Ich verstehe nicht, warum Aiden vor mir zurückgewichen ist, als würde er sich an mir verbrennen. Ich verstehe nicht, weshalb er plötzlich so aufgebracht und durcheinander ist und vor allem verstehe ich keines seiner Worte. Sie sind wir Hieroglyphen, wie eine andere Sprache, die einfach keinen Sinn ergibt.
»Was meinst du damit Aiden? Ich verstehe nur Bahnhof.« Die Augenbrauen dicht zusammengezogen beobachte ich Aiden dabei, wie er noch immer durch das Wohnzimmer tigert, ehe er mir bei meinen Worten den Rücken zuwendet und abrupt stehen bleibt. Immer wieder ballt er seine Hände zusammen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu lösen. Ich kann sein Gesicht zwar nicht sehen, aber das muss ich auch gar nicht. Allein daran wie sehr seine Schultern zu beben beginnen weiß ich, was in ihm vor geht.
»Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee wäre es verstehen zu wollen Lyn.« Seine Stimme zittert. So wie meine noch vor wenigen Augenblicken.
Ich habe weiß Gott keine Ahnung was in den letzten Tagen vorgefallen ist, aber es beherrscht Aiden Gedanken offensichtlich so sehr, dass er mich weder lieben will noch kann. Geschweige denn mir in die Augen sehen möchte.
»Ich glaube ich kann das sehr gut alleine entscheiden Aiden. Und ich würde wirklich gerne wissen, warum du mich so von dir stößt. Nicht nur eben gerade.« Meine Finger krallen sich automatisch in das lederne Sofapolster. So fest, dass es beinahe weh tut. Aber es ist mir egal. Die angespannte Stimmung schmerzt viel mehr als meine Fingerkuppen.
Aiden ringt merklich mit sich. »Aber es würde alles zerstören. Du würdest in mir nie wieder den selben Menschen sehen.« Seine Stimme verliert von Silbe zu Silbe ihre Härte und wird mit jedem Ton weicher.
»Das stimmt nicht. Egal was los ist, du bist und bleibst Aiden. So oder so ähnlich hast du mir es damals auch gesagt. Das Vic und Rich nicht meine leiblichen Eltern sind ändert nichts. Ich bin und bleibe Lyn. Aiden, sprich doch einfach mit mir. Sonst zerbricht doch alles nur noch mehr.« Kaum haben die letzten Worte meine Kehle verlassen dreht Aiden sich mit glasigen Augen zu mir um.
»Aber es ändert etwas. Es ändert alles.« Kopfschüttelnd versteckt er sein Gesicht hinter vorgehaltenen Händen.
Es bricht mir das Herz ihn so zu sehen, aber solange ich nicht weiß, was ihn so sehr beschäftigt, solange ich nicht weiß was der Grund für all die Veränderungen ist, solange kann ich Aiden auch nicht in den Arm nehmen und ihn trösten. Das kann ich schlicht und weg nicht. Ich muss Aiden nicht noch einmal bitten endlich Klartext zu reden, das weiß er ohnehin schon.
Mit zwei großen Schritten ist er bei mir und setzt sich ohne mich eines Blickes zu würdigen wieder neben mich auf die Couch. »Du willst es wirklich wissen oder?«
Diese Nähe ist definitiv nicht gut. Ich bin abermals versucht ihm die einzelnen Tränen von den Wangen zu wischen, kralle aber stattdessen meine Finger nur noch mehr in das arme Sofa. »Ja Aiden, ich will es wirklich wissen.«
Aiden holt schwer Luft und scheint zu überlegen wie er am besten anfängt.
»Also gut. Alles hat an dem Abend von dem Footballspiel angefangen.« Nervös zupft mein Gegenüber an einem Stück überstehender Haut seines Fingernagels.
Bislang ist all das nichts neues. Dennoch wage ich es nicht ihn zu unterbrechen. Wenn er ganz von vorne beginnen möchte, dann soll er das auch. Ich bin bloß froh hoffentlich eine Antwort auf all das Chaos zu bekommen.
»Als mein Vater von dem verlorenen Spiel erfahren hat, sollte ich ihm in sein Büro folgen. Ich hatte ja keine Ahnung was passieren würde.« Nun lässt Aiden von seinen Händen ab und sieht zu mir auf. »Alles war wie immer. Die klassiche Standpauke. Auch wenn ich das alles schon so oft gehört habe, es verletzt mich trotzdem jedes Mal aufs Neue. In meiner Rage habe ich den ganzen Aktenstapel von seinem Schreibtisch gefegt. Natürlich musste ich das angerichtete Chaos auch wieder aufräumen. Das war eine heiden Arbeit, aber als-« Aiden unterbricht sich selbst und sieht mich fragend an. »Dein Geburtstag ist doch der 14.08. Richtig?«
Irritiert über diese Frage nicke ich. Vor allem an meinen letzten Geburtstag erinnere ich mich zu gut. Es war der allerletzte im Heim. Der letzte auf unbestimmte Zeit mit Alli.
Aiden hält meine Gedanken im hier und jetzt, als er plötzlich auf flucht. »Verdammt. Ich Idiot habe das alles immer für einen dummen Zufall gehalten.«
Da geht es ihm nicht allein so. Unser Lachen, als wir bemerkt haben, dass wir in Zukunft unseren Ehrentag teilen werden ist noch so präsent, wie das Gefühl von Aidens Lippen auf meinen. Und das obwohl jener Moment schon Wochen zurück liegt.
»Und deine Mutter, also deine leibliche heißt doch Francessca Rodriguez?«
»Ähm ja?«, eigentlich soll es eine Feststellung sein, dennoch klingt es eher nach einer Frage. Berechtigt. Immerhin habe ich keine einzige Idee, warum er mich das fragt.
Aiden hat derweil die Augen geschlossen und lässt seinen Kopf einmal über den Nacken rollen. »Also gut, zurück zu dem Chaos im Büro.« Zeitgleich richtet er sich auf und sieht mich noch eindringlicher als zuvor an. »Aus einem Hefter waren die gesamten Blätter herausgefallen und quer über den Boden verteilt. Gewundert hat mich die Aufschrift. Der Name meiner Schwester, sowie mein eigener. Die ganzen losen Zettel waren ein Haufen an Rechnungen und Dokumente. Avas Adoptionsunterlagen zum Beispiel.« Wieder macht Aiden eine Pause und greift nach meiner rechten Hand, die sich wie von Geisterhand aus dem Leder gelöst hat.
»Aber es waren nicht nur ihre Lyn. Es waren auch meine.« Aiden schluckt schwer und drückt meine Hand fester, als befürchte er, dass ich jede Sekunde davonlaufen könnte.
Nur langsam kommt das Gesagte bei mir an. Nur ganz, ganz langsam erreichen seine Worte meine Synapsen und lassen sie Sinn ergeben. Die Harpers sind also gar nicht Aidens leiblichen Eltern. Es wundert mich nicht, dass ihm das so sehr das Herz bricht. Immerhin war er sein ganzes Leben lang in dem Glauben, er sei das Fleisch und Blut seiner Eltern. Doch während diese Informationen noch sacken und ich beschließe Aiden bei allem beizustehen, was er emotional durchleben wird, kommt mir ein ganz anderer schrecklich schöner Gedanke. Ein Gedanke, den ich gar nicht erst wage weiterzuspinnen. Rasch ziehe ich Aiden in eine Umarmung. Dankend schließt auch er seine Arme um mich. Ich bin mir sicher den ein oder anderen Schluchzer hören zu können.
»Aiden du hast doch selbst gesagt das ändert nichts an einem selbst. Und du weißt, dass ich immer für dich-.« Doch weiter komme ich nicht. Aiden unterbricht mich und entzieht sich nur Sekunden später meiner Arme.
»Du verstehst nicht Lyn. Damit komme ich klar. Ich bin sauer, dass sie es mir so lange verheimlicht haben und wohl auch nicht vor hatten allzu bald mit der Wahrheit herauszurücken, aber bei den beiden wundert mich sowieso nichts mehr. Außer ein Haus und einen Namen teilen wir sowieso nichts. Aber Lyn uns verbindet viel mehr. Mehr als Liebe.«
Seine Worte verstärken das ungute Gefühl nur noch weiter. Indirekt spricht er genau das an, dass ich die letzten Wimpernschläge verdrängt habe.
»Wir teilen einen Geburtstag, die gleiche Haarfarbe, ein Schicksal und den selben Geburtsnamen. Lyn ich kann dich so einfach nicht lieben. Ich darf es einfach nicht. Das wäre sowas von falsch.« Abermals hält er inne und presst kurz die Lippen aufeinander. »Weil wir verdammt nochmal Geschwister sind.«
Wirklich realisieren kann ich das alles nicht. Diese blöde Vermutung ausgesprochen zu hören wühlt mich auf. Noch viel mehr als ich es eh schon bin. Das Blut rauscht geradezu durch seine Bahnen. Mein Herz rast. Jegliche Farbe weicht mir aus dem Gesicht. Wortlos zieht Aiden mich in seine Arme. Versucht mich zu beruhigen. Zwecklos. Immer wieder kreisen die gleichen Gedanken. Aiden ist dein Bruder. Er ist nicht dein Freund. Er ist dein Bruder. Du darfst ihn lieben, aber nicht so. Aiden ist dein Bruder. Verdammt, mehr sogar. Er ist dein Zwilling. Deine Familie. Ein Stück richtige Familie. Genetische Familie.
Eine ganze Weile verharren wir so. Eng umschlungen, uns beide stützend. Nur langsam weicht mir der Schock aus den Gliedern. Nur in aller Seelenruhe werden die Schläge meines Herzens regelmäßiger. Erst nach einer halben Ewigkeit habe ich das Gefühl zu verstehen, was hier gerade vor sich geht. Mit jeder Sekunde lässt die Überraschung Platz für Freude und gleichzeitiger Besorgtheit. Wie soll es jetzt weitergehen? Was werden unsere »Eltern« dazu sage. Sie werden es schließlich erfahren müssen. Genauso wie Josie, Ethan und Alli. Und noch viel wichtiger, was bedeutet es für uns beide, dass wir beide weder Freunde noch gar ein Paar sind oder werden können, sondern Geschwister? Kann man seine Gefühle für eine Person einfach abschalten, bloß weil sie von jetzt auf gleich falsch sind? Wie lange wird es dauern, bis wir uns wie eine Familie verhalten werden. Uns lieben wie unsere Freunde. Werden wir das überhaupt können? Oder zerbricht an dieser Stelle alles? Verliere ich hiermit nicht nur Aiden, sondern auch die einzige Person, die wirklich meine Familie ist? Da sind so viele Fragen und Sorgen, aber keinerlei Antworten. Aiden scheint mein plötzliches Unbehagen zu bemerken und löst sich sanft aus unserer Umarmung. Für einen Moment befürchte ich, er könnte denken, dass ich zuvor irgendetwas geraucht habe. Wenn ich in den Spiegel schauen würde, könnte ich mir das vermutlich fast selbst glauben. Meine Stimmung liegt irgendwo zwischen größter Freude und dem größten Leid. Und ich schätze, dass man mir das nur allzu gut ansehen kann.
Doch Aiden streicht mir lediglich eine Haarsträhne hinters Ohr und erlangt so erneut meine gesamte Aufmerksamkeit. »Lyn, hey, wir kriegen das hin okay? Du bist mir wichtig. Schon seit ich dir im Bus zum ersten Mal begegnet bin. Und ich will dich auf gar keinen Fall verlieren. Es wird schwer, aber wir kriegen das zusammen hin. Irgendwann werden wir soweit sein und uns als das was wir sind akzeptieren können. Als Freunde haben wir doch auch schon wunderbar funktioniert. Eines Tages werden wir das auch als Geschwister können.« Schwach lächelnd wandert seine Hand von meinem Haar auf meine Schulter, um sie aufmunternd zu drücken.
Zustimmend nicke ich. Denn Aiden hat Recht. Es wird schwer, sogar verdammt schwer werden. Aber zusammen sind wir stark und können es schaffen. Wer wenn nicht Geschwister? Vermutlich werden wir uns ein Stück weit neu kennenlernen müssen. Zusammen lernen und gemeinsam wachsen. Auch wenn der Schock noch immer tief sitzt, bin ich froh, dass Aiden nicht vorhat mich nicht als seine Schwester zu wollen. Seine Worte tuen mir sogar so gut, dass ich ihnen mehr Glauben schenke, als meinen vorangegangenen Gedanken. Wir können und werden das schaffen. Das weiß ich sicher.
»Im Grunde bin ich im Nachhinein fast schon ein bisschen erleichtert, dass es so gekommen ist. Frauen laufen da draußen immerhin zu Genüge herum. Aber so eine einzigartige Schwester wie dich Lyn, die werde ich nirgends ein zweites Mal finden.«
Automatisch muss ich Schmunzeln. Denn in einer gewissen Art und Weise hat Aiden schon wieder Recht. Typen gibt es auf dieser Welt genug. Freunde auch. Nur Brüder, die findet man nicht so einfach. Man kann sie sich nicht aussuchen und doch ist es ein wunderbares Gefühl von nun an einen zu haben. Fortan ein Stück genetische Familie bei mir zu haben.
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too close
Teen FictionLyn, ein junges eher in sich gekehrtes Mädchen wird unverhofft adoptiert. Mit dem Umzug in einen fremden Bundesstaat muss sie ihr altes Leben hinter sich lassen. Besonders schwer fällt ihr der Abschied von ihrer besten Freundin. Denn Alli ist die ei...