⊱Kapitel 1⊰

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Verschlafen blinzle ich gegen die hellen Sonnenstrahlen. Der ätzende Klingelton meines Weckers hat mich soeben unsanft aus dem Schlaf gerissen. Fahrig streiche ich mir meine zerzausten Haare aus dem Gesicht und setzte mich ruckartig auf, als mir bewusst wird, welcher Tag heute eigentlich ist. Zum ersten Mal werde ich einen Fuß in die Highschool Effinghams, Illinois setzten. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlage ich die Bettdecke zur Seite und husche aus meinem Bett, nur um mich einmal kräftig zu strecken.

Zielorientiert schreite ich zu meinem Kleiderschrank und greife nach dem Kleiderbügel an der Schrankwand. Schon gestern Abend habe ich mir mein Outfit für heute rausgelegt. Mit einer lässigen Bluse und einer schlichten Jeans werde ich wohl kaum etwas falsch machen.

Nachdem ich mich für meinen ersten Schultag an der neuen Schule zurecht gemacht habe, klaube ich sorgfältig alle Sachen zusammen und stopfe sie in meinen Rucksack. Victoria bot mir mehr als einmal an, mir einen neuen zu kaufen. Immer wieder betonte sie, wie abgegriffen dieser schon ist und sie Angst hat, dass ich demnächst all meine Schulsachen auf dem Gang verteilen würde. Ich hingegen klammere fast an dem alten Teil. So blöd es auch klingt, wir haben schon viel zusammen erlebt. Die letzte Zeit auf der Highschool wird mein geliebter Rucksack auch noch überleben. Mal sehen, vielleicht kann ich mich zum Collegebeginn von dem schäbigen Ding trennen. Einen klaren Schnitt machen.

Gerade als ich mein Handy vom Nachtisch nehme und auf neue Nachrichten prüfe, was eigentlich absolut sinnlos ist, wenn man bedenkt, dass mir eigentlich niemand außer Alli schreibt, fällt mein Blick auf unser gemeinsames Foto. Es ist das gleiche, wie das auf meinem Notizheft. In den vergangenen Wochen ist so viel geschehen. Doch trotz allem wollen wir auf keinen Fall, dass unser Kontakt abbricht. Wir telefonieren regelmäßig oder schreiben uns kurze Nachrichten. Ich bin mir sicher, Alli wird heute ganz besonders an mich denken.

Ein weiteres mal drehe ich mich zum Spiegel in der Ecke neben meinem Kleiderschrank und betrachte einen Moment lang mein Spiegelbild. So als würde es mir Kraft schenken, aber auch als müsste ich dieser Erscheinung eine gehörige Portion Mut zu sprechen. Kurzerhand beschließe ich Alli ein Selfie zu schicken.

Bin ganz schön aufgeregt. Melde mich später <3

Während ich diese Worte in das kleine Feld tippe steigt mir die Nervosität tatsächlich ziemlich zu Kopf. Mein Herz schlägt schneller als gewöhnlich und lässt mich das Pumpen deutlich spüren. Wie im Flug rauscht das Blut durch die Bahnen. Fast befürchte ich, jeder könnte meine Halsschlagader hervortreten sehen.
»Du schaffst das Lyn Wright«, spreche ich meinem gespiegelten Ich zu und wende mich zum Gehen.
Mein neuer Name – auch so eine Sache an die ich mich erst noch gewöhnen muss. All die Jahre war ich eine Rodriguez. Eigentlich mochte ich meinen alten Namen ganz gerne, aber dieses Kapitel ist nun endgültig abgeschlossen.

Schnellen Schrittes haste ich Stufe für Stufe der hölzernen Treppe nach unten. Victoria und Richard wohnen in einem kleinen Häuschen im Schindel Stil am Standrand. Anfangs war ich wenig begeistert davon. Immerhin muss ich so Ewigkeiten mit dem Bus fahren oder eine halbe Wanderung absolvieren, um überhaupt irgendwo hinzukommen, wo etwas los ist. Wenig später begriff ich, dass mir das eigentlich gar nicht so wichtig war. Denn am Straßenende, ein paar hundert Meter von hier entfernt, liegt ein weitläufiger Park, in dem allerdings kaum jemand anzutreffen ist. Höchstens spielende Kinder, Familien oder ältere Leute, die ihren Hund ausführen. In den letzten Wochen war ich oft dort. Victoria und Richard sind zwar bisher die besten und liebsten Eltern, die ich mir vorstellen kann, aber ab und an brauchte ich einfach mal ein bisschen Ruhe und Zeit für mich. Oft hat mich die neue Situation einfach ziemlich überfordert. Die beiden haben mich nie gedrängt, an irgendwelchen Wochenendausflügen mitzukommen oder mich zwangsläufig beim Abendessen ins Familiengespräch einzubringen, aber ich wollte weder unhöflich erscheinen, noch sind mir ihre erwartenden Gesichter entgangen. Die meiste Zeit über gebe ich mir auch die größte Mühe eine gute Tochter zu sein, so eine, wie die beiden sich offenbar immer gewünscht haben. Aber manchmal musste ich eben einfach für mich allein sein. In solchen Momenten schnappte ich mir mein verziertes Heft und zog mich in den grünen Park zurück, in dem die Sonne nur so scheint, die Blumen blühen und die Bienen summen.

too closeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt