⊱Kapitel 33⊰

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Pfeifend und mit schnellen Schritten mache ich mich auf den Weg nach Hause. Wenn ich noch länger trödle, könnte Vic Verdacht schöpfen. Unter meinem Arm klemmt das bunt eingepackte Geschenk, dass ich eben noch auf den letzten Drücker besorgt habe. Das einzige Geschäft, das auf meinem Heimweg liegt ist die Buchhandlung. Also musste ich improvisieren und habe Vic einfach einen dicken Pflanzenratgeber gekauft. Erstaunlicherweise verbringt sie mit den grünen Lebewesen in unserem Garten meistens mehr Zeit, als mit ihrem Mann. Sie liebt sie einfach. Vor allem die blühenden Blumengewächse. Mit einem solchen Buch kann man da sicherlich nicht allzu viel falsch machen. Zumal ich kaum etwas über Vic weiß. Darüber was man ihr guten Gewissens schenken kann und was man lieber bleiben lassen sollte. Eigentlich ziemlich traurig, wenn man bedenkt, dass ich hier schon ein paar Monate wohne. In diesem Moment beschließe ich mich in naher Zukunft mehr mit meinen Adoptiveltern auseinander zusetzten. Netterweise hat mir die freundliche Verkäuferin mit der schmalen Brille noch ein paar als Werbegeschenk verpackte Süßigkeiten dazu gelegt. So wirkt meine spontane Aktion wenigstens nicht ganz so planlos. Nichtsahnend schlendre ich den gepflasterten Weg bis zu unserer Haustür empor und fische umständlich in den unendlichen Weiten meiner Hosentasche nach dem verflixten Schlüssel. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, als im gleichen Moment die Tür aufgerissen wird. Breit lächelnd steht Vic vor mir. Sie sieht heute ganz anders aus, als sonst immer. Statt Jeans und Shirt trägt sie ein locker herabfallendes, schlichtes Kleid. Ihr dickes Haar hat sie zu einem französischen Zopf zurückgebunden. Es ist so ungewohnt, dass ich einen Moment lang innehalte und Vic einfach nur anstarren kann. Schließlich kommen mir dann doch die richtigen Worte über die Lippen. 
»Happy Birthday Vic«, gratuliere ich ihr zu ihrem Ehrentag und ziehe das kurz darauf das rechteckige Geschenk aus meiner Armbeuge. 
Noch immer freudestrahlend drückt Vic mich in einer schnellen Bewegung an sich. »Ich danke dir, Lyn.« 
Nun muss auch ich lächeln, während mir der Duft ihres blumigen Parfüms in die Nase steigt. Nach einer Weile löse ich mich aus der festen Umarmung, um ihr endlich das Geschenk überreichen zu können. Vic nimmt es dankbar an und würde vermutlich auch nicht davor zurückscheuen, ihre Freude noch unzählige Male auszudrücken, wenn sie sich nicht daran erinnern würde, dass ich die letzten Tage ganz allein zu Hause war. Wobei ganz allein ja auch nicht unbedingt der Wahrheit entspricht. 
»Ich bin froh, dass wir wieder zu Hause sind. Ich habe dich ganz schön vermisst.«
Zögernd bemühe ich mich mein Lächeln aufrecht zu erhalten. Ich kenne es nicht vermisst zu werden. Die einzige der ich immer gefehlt habe und auch in Zukunft fehlen werde ist Allison. Aber das ist etwas ganz anderes. Victoria hat mich vermisst, weil ich in ihren Augen schon längst ihre Tochter bin. Weil sie mich gerne hat, weil sie mich liebt. So wie Eltern ihre Kinder nun einmal liebhaben. Aber ich? Kann ich das überhaupt erwidern? Ich gebe mir zwar immer wieder die größte Mühe, aber dennoch bezweifle ich, dass ich Vic und Rich jemals als meine Eltern bezeichnen kann. Als Eltern die ich liebhabe. Klar mag ich die beiden. Aber mehr als gute Bekannte. Ich mag sie genauso sehr, wie Josie oder vielleicht Ethan. Und wenn meine beste Freundin mal nicht da ist, dann macht es manche Dinge zwar nicht leichter, aber ich weiß, dass ich sie am Montag wiedersehen werde. Ich weiß, dass ich sie nicht zu vermissen brauche und sie mir nicht fehlen wird. Einfach, weil wir so meistens schon genug Zeit miteinander verbringen und der Abstand eher guttut. Aus einem ganz einfachen Grund. Ich habe sie gerne um mich, ich mag sie, aber ich liebe sie nicht. Mir fehlt ihre Anwesenheit nicht und es macht mich auch nicht traurig, wenn eine Verabredung mal ausfällt. Genauso ist es mit Vic und Rich. Ich mag sie, aber mehr nicht. Wenn sie da sind ist es okay, wenn nicht dann geht das auch vollkommen klar. Ich muss nicht zwangsläufig beim Abendessen mit ihnen an einem Tisch sitzen. Ich mache es und es ist in Ordnung, es würde mir aber auch nicht fehlen, wenn es anders wäre. Daher würde ich ihre Worte auch nicht unbedingt erwidern. Es eben nur anders. Eher ungewohnt nach all den Wochen. Aber vermissen ist etwas anderes. Und eigentlich zieht sich bei dem Gedanken alles in mir zusammen. Die beiden geben sich immer wieder so viel Mühe mit mir. Sind für mich da und unterstützen mich und ich? Ich mit nicht einmal dazu in der Lage ihre Gefühle zu erwidern. 
Bevor Vic mich fragen kann, wie das Wochenende war oder ich ihre Worte aus Höflichkeit doch noch wiederhole dringen gedämpfte Stimmen und Gesprächsfetzen aus dem inneren des Hauses zu mir durch. »Wer?«
Victroia sieht mich entschuldigend an.
»Es tut mir leid Lyn. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie vorbeikommen wird.« 
Irritiert mustere ich ihre reumütigen Gesichtszüge. »Dass wer vorbeikommen wird?«, hake ich schließlich nach, um nicht länger planlos vor meiner Adoptivmutter stehen zu müssen. 
»Eleanor. Deine Tante. Also eigentlich meine Schwester«, Vic macht eine Pause, ehe sie hinzufügt: »Sie wollte mich an meinem Geburtstag überraschen.« 
»Das ist ihr definitiv gelungen«, murmle ich eher zu mir selbst, auch wenn Vic es ganz bestimmt gehört hat. 
Mir ist nicht erst seit gestern bewusst, dass ich irgendwann nicht mehr darum herumkommen werde, die Familie meiner Adoptiveltern kennenzulernen, aber dennoch kommt diese Situation ziemlich plötzlich. Die Tatsache, dass hinter diesen Backsteinwänden meine sogenannte Tante Eleanor sitzt überrumpelt mich. Sie erdrückt mich fast. Warum? Weil ich nicht darauf vorbereitet bin. So ganz und gar nicht damit klarkomme. Weil ich nicht den leisesten Schimmer habe, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll. Worüber spricht man? Was lässt man bleiben? Wird sie mich mögen? Was, wenn nicht? Wird sie nett sein? Werde ich sie leiden können? Und noch viel schlimmer. Was, wenn meine Wangen sich schlagartig von ihrem zarten Rosaton verabschieden und so leuchtend wie eine Tomate anlaufen? Das wäre furchtbar peinlich. Ich hätte es von Anfang an versaut. Denn für den ersten Eindruck gab es niemals eine zweite Chance. 
»Okay«, stammle ich dann. Victoria kann immerhin nichts dafür.
Ich vertraue ihr und weiß, dass sie ihre Schwester nie eingeladen hätte ohne mit mir zu reden. Nach unserer Aussprache vor mehreren Wochen hat Vic verstanden, dass es für mich eine riesige Sache ist, ihre Familien kennenzulernen. Sie hat mir versprochen darauf Rücksicht zu nehmen und angehörige nur bei ihnen zu Hause oder an öffentlichen Plätzen zu treffen. Eine Vereinbarung, mit der wir beide gut leben konnten. Und wenn Victoria ihre Schwester für heute Nachmittag hätte einladen wollen, dann hätte ich ihr das sicherlich nicht verwehrt, aber ich wäre vorbereitet gewesen. Das ist der riesige Unterschied. 
»Lyn, es tut mir wirklich so unfassbar leid, aber ich bin mir sicher, du wirst Eleanor mögen.«
Ich nicke nur. Inzwischen tut mir Vic fast schon mehr leid, als ich mir selbst. 
»Es ist schon okay Vic. Du kannst ja nichts dafür.« Und das meine ich haargenau so, wie ich es sage. Es ist nicht Victorias Schuld. Vielmehr ist es eine unüberlegte Überraschung. Ein Besuch. Und ein Kennenlernen zugleich. 
Dankbar legt Vic ihren Arm um meine Schulter. »Wollen wir reingehen?« 
Ich bejahe und setzte nervös einen Fuß vor den anderen. So aufgeregt war ich nicht einmal vor dem ersten Date mit Aiden. Mein Herz rast, überschlägt sich beinahe. Die Luft, die mir zum Atmen bleibt wird dünner. Eine helle, freundliche Stimme dringt zu mir durch, als ich meinen Rucksack in die Ecke stelle und mir die Schuhe von den Füßen streife. Mein Blick bleibt in dem runden Spiegel über der Kommode hängen. Hastig streiche ich meine Haare ein wenig glatt und spreche mir immer wieder gedanklich neuen Mut zu. Du schaffst das Brooklyn Wright. Du schaffst das. So schwer wird das nicht. Du kannst das Lyn! 

Fest entschlossen betrete ich unseren Essbereich. Vic steht etwas ziellos an dem einen Tischende, Richard sitzt an dem anderen und war bis gerade eben in ein energisches Gespräch mit Eleanor verwickelt. Als sie mich erblickt, zupft ein Lächeln an ihren Mundwinkeln. Eleanor ist bildhübsch. Sie sieht ihrer Schwester so ähnlich, dass man fast meinen könnte, sie wären Zwillinge. Sind sie aber nicht. Das weiß ich. Vic hat es mir einmal erzählt. Immerhin ist sie die große, stolze Schwester. Eleanor scheint Victoria nicht nur ähnlich zu sehen, sondern muss sich wohl auch sehr genau sowie sie verhalten. Sie wirkt nett und weltoffen. Entgegen meiner Erwartungen habe ich nicht einmal das Bedürfnis in der Erde versinken zu wollen. 
»Du musst Brooklyn sein, richtig?«, sie ist gerade im Inbegriff ihren Stuhl nach hinten zu schieben, als ich ihre Frage mehr oder weniger zurückgebe. 
»Hallo Mrs.-«, ich halte inne. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich nicht einmal Vics Mädchennamen kenne. Und selbst wenn, vielleicht ist ihre Schwester auch verheiratet? 
»Ach nenn mich doch einfach Eleanor.« Inzwischen hat sie den Tisch umrundet und steht mehr oder weniger direkt vor mir. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Richard und Victoria uns aufmerksam beobachten. 
Erleichtert lasse ich die angestaute Luft heraus. »Eleanor also«, lächle ich. 
Meine »Tante« nickt. »Ich freue mich dich kennenzulernen Brooklyn.« 
»Ich mich auch Eleanor. Aber bitte nur Lyn. Ich kann meinen vollen Namen nicht ausstehen«, antworte ich dann doch etwas verkrampft. 
Vic tritt neben ihre Schwester und wirft ihr einen vielsagenden Blick zu. »Ich habe es dir doch gesagt. Lyn mag das nicht.« 
Eleanor verdreht nur grinsend die Augen. »Jaja.« 
Jetzt wo ich die beiden so zusammen sehe, wird mir bewusst, wie gut sie sich eigentlich verstehen. Wie dick das band zwischen ihnen sein muss. Fast so, wie bei Alli und mir. Bloß, dass wir nicht blutsverwandt sind. 

Um die Situation etwas aufzulockern, fragt Vic schließlich ob jemand Appetit auf Kuchen hat. Natürlich sage ich da nicht nein, aber vor allem bin ich ihr dankbar, da sie mir so die meiste meiner Anspannung nimmt. Den gesamten Nachmittag reden wir vier über alles Mögliche. Eleanor stellt mir ein paar Fragen, löchert mich aber auch nicht und akzeptiert es, wenn ich ab und an nur sehr schwammig antworte. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, sie mit der Zeit nicht in mein Herz geschlossen zu haben. Ich bin mir nämlich sehr sicher, dass wir uns auch in Zukunft blendet verstehen werden. So erfahre ich nach zwei Stücken Kuchen und einer Tasse Kaffee endlich auch etwas über Eleanor. Sie lebt allein und hat sich erst vor kurzem von ihrem Mann getrennt. Kinder hat sie keine, aber dafür ja jetzt eine wunderbare Nichte. Ihre Worte bringen mich automatisch zum Lächeln. Es ist der Augenblick, in dem ich realisiere, dass ich von nun an eine Familie habe. Eine richtige. Eine die für mich da ist, eine, mit der ich Lachen kann. Und bis eben habe ich nicht einmal gewusst, dass ich sowas überhaupt brauche. 
Trotzdem klinke ich mich irgendwann aus der Unterhaltung aus und ziehe mein Smartphone aus der Hosentasche. Aiden hat noch nichts von sich hören lassen, obwohl das Spiel längst vorbei sein müsste. Also beschließe ich, einfach mal nachzuhaken. 

Hey, darf ich zum Sieg gratulieren? Hab dich lieb. L. <3

Als ich das Handy wieder wegstecke, kreuzt mein Blick den vknu Victoria, der wachsam auf mir liegt. Sie grinst und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mir so langsam aber sicher auf die Schliche kommt. Während ich also versuche dem Gespräch zu folgen, um wieder mitreden zu können, bleiben meine Gedanken doch eher bei Aiden hängen. Denn auch spät am Abend, als ich längst in meinem Bett liege, dass seit heute Morgen so vertraut nach meinem Freund riecht, hat er noch keine Antwort gesendet. Keine Nachricht, kein Anruf. Auch, wenn mich der Duft seines Parfüms langsam für sich gewinnt, werde ich dieses ungute Gefühl in meinem Bauch nicht los. Die Sorge um meinen Freund.

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