⊱Kapitel 4⊰

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Mit zusammengekniffenen Augen fische ich nach meinem Handy auf dem Nachttisch, um diesen grässlichen Weckton abzuschalten. Es ist eben einfach viel zu früh am Morgen. Zumindest, wenn man bedenkt, dass zwischen Washington und Illinois nur eine geschlagenen Stunde Zeitunterschied herrscht. Alli und ich haben uns wie so oft völlig verquatscht. Gähnend setze ich mich auf und fahre mir mehrmals durch meine zerzausten Haare, ehe ich ein paar Mal müde blinzle und versuche einen klaren Blick zu erhaschen. Natürlich wollte meine beste Freundin, die eigentlich wie eine Schwester für mich ist, alles wissen. Noch nie zuvor habe ich eine Person getroffen, die so liebenswert und gleichzeitig so neugierig ist. Laut Alli scheint in Walla Walla alles beim Alten zu sein, während hier jeden Tag etwas neues, wenn ich Alli zitieren darf, offenbar absolut abgedrehtes, passiert. Ja, schon ziemlich abgedreht die Geschichte um Aiden aka der Busjunge.
Man könnte fast meinen der Herrscher des Schicksals hat zu viel in der Literatur rumgeschnüffelt. Ich meine wir alle kennen sie, die Romane, in denen der mysteriöse, gutaussehende Kumpel der besten Freundin oder jemand anderes auf die zurückhaltende Schönheit trifft. Bloß gibt es meistens einen Haken. Und auch, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass man bei Aiden und mir von einer Liebesstory sprechen kann, da es dazu definitiv niemals kommen wird, bin ich mir ziemlich sicher, dass er irgendetwas zu verbergen hat. Vielleicht etwas, dass er sich selbst noch nicht einmal eingestehen will. Aber irgendetwas steckt hinter dieser Fassade. Hinter der Kälte, mit der er mir im Bus begegnet ist und hinter der aufdringlichen Höflichkeit auf dem Footballfeld. Und wie in all diesen guten Büchern, bin ich mir ebenso sicher, dass ich es irgendwann herausfinden werde.

Dieser Morgen erscheint mir auch nicht wirklich realer, als ich meine Zähne putze, meine Tasche packe und mich nach unten in die Küche schleppe. Victoria ist heute wohl schon früher zur Arbeit, denn von ihr fehlt weit und breit jede Spur. So sitze ich mit Richard allein am Frühstückstisch.
Wie jeden Morgen ist er in seine Zeitung vertieft und greift immer wieder blind nach seiner Kaffeetasse. Wie er das jedes Mal schafft oder auch nur einen Tropfen zu verschütten, ist mir unklar.
Erst als ich mein Croissant fast vollständig verschlungen habe faltet Rich seine Zeitung wieder zusammen und blickt zu mir auf. »Wie war eigentlich der erste Tag? Du warst gestern so schnell weg und dann nur am Telefonieren.«
Ich schlucke den letzten Bissen herunter und antworte ihm nur knapp: »Ganz gut.«
Erwartungsvoll stützt er seine Ellenbogen auf die Tischkante und legt seine Stirn in Falten. »Und was bedeutet in deiner Vorstellung ganz gut?«
Ich hätte mir eigentlich denken können, dass er nachfragt. Für einen Augenblick lasse ich den Rest meines Cappuccinos auf dem Grund der Tasse, die ich mit beiden Händen umfasse, hin und her schwanken. Vielleicht hat das farblose Porzellan eine gute Lösung parat. Denn eigentlich hatte ich nicht vor Rich alles Mögliche über den gestrigen Tag zu berichten.
»Sind deine Mitschüler denn nett?« Seufzend löse ich meinen Blick von der bräunlichen Flüssigkeit und schaue zu ihm auf.
»Ja sind sie. Besonders eine Mitschülerin, sie heißt Josie und ihre Freunde haben mich bisher ganz gut aufgenommen«, kurz halte ich inne, ehe ich grinsend fortfahre. »Neija zumindest die Meisten von ihnen.«
Rich nickt und wirkt ein wenig irritiert, hakt aber nicht weiter nach. »Das ist doch großartig Lyn.«
»Ja das ist es.« Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich inzwischen ziemlich spät dran bin und langsam mal los sollte. Hastig leere ich meine Tasse und springe dann auf, um meinen Rucksack zu schnappen und mich auf den Weg zur Highschool zu machen. Darauf bedacht Aiden heute Morgen so gut es geht aus dem Weg zu gehen, versuche ich einen Sitzplatz weiter hinten als üblich zu ergattern. Lieber verbringe ich die Fahrt zwischen den ganzen möchtegern Coolen, als neben ihm. Es gibt eben einfach Dinge, auf die ich nach weniger als vier Stunden Schlaf eindeutig verzichten kann. Aiden gehört zu ihnen.

Fluchend fällt mein Blick auf den einzig freien Sitzplatz. Bin ich irgendwie verflucht oder vom Pech verfolgt? Da ich weiß, dass mir sowieso keine Wahl bleibt lasse ich mich widerwillig auf den Platz neben Aiden fallen. Augenblicklich schaut er mich an, sodass sich unsere Augenpaare abermals ein Blickduell liefern, ehe sie sich ineinander verfangen. Seine eisblauen Augen fesseln meine. Wie auch gestern schon strahlen sie nichts als Emotionslosigkeit aus, die sofort erlischt, als er zu reden beginnt. Aiden schenkt mir ein ehrliches Lächeln, ohne auch nur einen Moment lang seinen Blick aus meinem zu erlösen. »Guten Morgen Lyn.«
»Guten Morgen, Aiden.« Dabei spucke ich ihm seinen Namen förmlich entgegen. Er scheint sofort zu verstehen, worauf ich hinaus will.
»Tut mir wirklich leid. Ich musste los. Deine Frage habe ich überhaupt nicht mehr gehört.«
Ach echt nicht? Meine rechte Augenbraue schießt in die Höhe. »Und woher weißt du dann, dass ich dich nach deinem Namen gefragt habe?« Ich warte gar nicht erst auf eine Antwort, sondern krame meine Kopfhörer aus meinem Rucksack, um kurz darauf in der Welt der zauberhaften Klänge zu versinken. Ich meine natürlich kann man sich denken, was ich ihn gefragt habe, aber ganz im Ernst. So sicher wie er sich damit war, hat er bestimmt mitbekommen. Ich bezweifle, dass er schon so weit weg stand. Wahrscheinlich wollte er einfach nicht antworten. Als Quarterback des Footballteams spricht man ja schließlich nur mit den Beliebten. Vorurteil hin oder her. Ich kann mir verdammt gut vorstellen, dass das die erbarmungslose Wahrheit ist. Meine Gegenfrage scheint ihn zum Grinsen gebracht zu haben. Idiot. Jedenfalls bemühe ich mich zwanghaft die aufsteigende Röte zu unterdrücken, die mir sein Blick in Gesicht zu treiben droht. Ohne mich ihm zu wenden zu müssen, spüre ich wie er mich permanent anstarrt. Ich kann es ihm nicht unbedingt verübeln. Schließlich habe ich gestern nicht anderes gemacht. Die Rache habe ich also mehr als verdient, aber warum muss es sich so anfühlen wie es sich nun mal anfühlt? Als mein Herz aufgeregt höherschlägt, glaube ich für einen kurzen Moment felsenfest daran, dass ich sterben werde, wenn ich nicht gleich aus diesem Bus fliehen kann. Aiden wird mich allein mit seinen Blicken erdolchen. Ich bin mir nicht zu einhundert Prozent sicher, dass das nicht auch eigentlich sein Plan dahinter ist.
Hoffentlich lande ich nicht in der Hölle, sondern im guten alten Himmel. Dann würde ich wenigstens auf einer Wolke davon schweben.
»Auf Wolke sieben!« Ähm was? Ich brauche einen Moment um zu begreifen, dass es nur ein mitteilungsbedürftiger Schüler war, dessen Stimme ich sogar über die Musik gehört habe. Seine Worte die lauter waren als meine eigenen Gedanken. Nur ein Schüler, der zu einem belanglosen Thema seinen Kommentar abgegeben hat...

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