⊱Kapitel 37⊰

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Etwas besser gelaunt als noch gestern Abend und vor allem ausgeschlafener als am Vortag, schlürfe ich über den Flur auf dem Weg ins Badezimmer. Eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor heute so früh aufzustehen und mich zur Schule zu schleppen. Zu sehr bin ich immer noch damit beschäftigt mir über Aiden und unsere Zukunft Gedanken zu machen. Ich kann wirklich gut darauf verzichten ihm heute unter die Augen zu treten. Eine passende Ausrede, die ich Vic auftischen könnte, warum ich heute lieber zu Hause bleiben möchte wäre mir sicherlich auch in den Sinn gekommen. Aber mal im Ernst? Was würde mir das bringen? Einen unnötigen Fehltag, jede Menge verpassten Unterrichtsstoff und die Möglichkeit Aiden zu zeigen, dass er mit seinem Getue nicht verletzten kann. Vielleicht würde ich auch die Chance verpassen mir genau das selbst zu beweisen, denn im Grunde zerfrisst mich dieser tiefe Schnitt unserer Beziehung innerlich. Ihn zu nähen liegt aber nicht an mir. Diese Verantwortung trägt ganz allein Aiden. Zumindest bis ich endlich weiß, was ihn überhaupt so sehr quält. Bis dahin muss ich einfach auf mich und meine eigenen Gefühle Acht geben. Josies Besuch gestern Nachmittag und der kitschige Liebesroman aus meinem Bücherregal waren da schonmal ein durchaus gelungener Anfang. Beides hat mich auf seine eigene Art und Weise von meinem eigenen Beziehungsdrama abgelenkt und so einen Teil zu meiner besseren Laune beigetragen. Bei diesen Erinnerungen ist kehrt leider auch das flaue Gefühl in meiner Magengegend zurück. Wessen Idee war es bloß gewesen diese gesamte Familienpackung Eiscreme zu verschlingen? Nach all den gestrigen Ereignissen kann ich im mit jeder Faser der Bemühung weiß Gott nicht daran erinnern, wer auf diese schwachsinnige Idee kam. Ich hoffe allerdings Josie später den schwarzen Peter zuschieben zu können. Noch mehr Schuld und Probleme möchte ich im Augenblick echt nicht auf meinen Schultern tragen. Jedenfalls solange es sich vermeiden lässt.

Wenig später bin ich schon im Begriff mich auf leisen Sohlen aus der Haustür zu schleichen, als Victorias Stimme mich aufhält. »Lyn?«
So wehmütig wie sie klingt, hat sie sicherlich etwas bemerkt und nutzt jetzt die Gelegenheit mich darauf anzusprechen. Schwer schluckend drehe ich mich zu ihr um.
»Ist alles in Ordnung Lyn? Du siehst so«, Vic unterbricht sich selbst, um nach dem richtigen Wort zu suchen. »So traurig aus.«, beendet sie ihren Satz dann schließlich.
Ich überlege einen Moment. Einen Augenblick zu lang, wenn es nach Vic geht. Das sagt zumindest ihr besorgter Gesichtsausdruck. Nein, gar nichts ist in Ordnung und wenn ich so darüber nachdenke dann bin ich wirklich verdammt niedergeschlagen. Traurig, enttäuscht, durcheinander. Fast spiele ich mit dem Gedanken die Wahrheit zu sagen, aber was genau soll ich Vic denn erzählen? Sie weiß weder von Aiden und mir, noch was passiert ist. Ein Detail, von dem ich ja selbst keinen blassen Schimmer habe. »Natürlich. Es ist alles in bester Ordnung.« Ich versuche inständig meine Worte so glaubwürdig wie möglich über die Lippen zu bringen, was mir offenbar weniger gut gelingt.
»Sicher? Ich merke doch, dass du anders bist. Gestern schon. Warum sonst solltest du mit deiner Freundin einen riesigen Eisbecher vernichten.«
Ungläubig sehe ich Vic nun direkt in die Augen. Woher weiß sie von dem Eis?
»Komm schon Lyn. Ich bin nicht blind. Ich weiß was in meiner Gefriertruhe liegt. Und ich bemerke auch, wenn es fehlt. Zumal die Verpackung im Müll und zwei Löffel in der Spüle liegen. Da kann ich eins und eins zusammenzählen. Ist wirklich alles okay?«
Ich nicke. Vielleicht rede ich später mit Vic. Aber eben erst später. Nächste Woche oder übernächste. Vielleicht auch nie.
»Es ist wirklich alles okay«, versichere ich Vic.
»Na schön. Wenn du das sagst werde ich das glauben müssen. Trotzdem weißt du, dass du jederzeit mit uns reden kannst. Über alles.« Ihr ernster Blick deutet keinen Widerspruch.
»Ich weiß Vic.«
Sie nickt mir zum Abschied zu und lässt mich dann mit dem Thema in Ruhe, sodass ich endlich durch die Tür verschwinde. Das wird auch höchste Zeit immerhin muss ich meinen Bus bekommen.

Vor der Highschool entdecke ich bereits Josie. Sie unterhält sich angeregt mit ihrem nur wenige Minuten älteren Bruder. Aiden kann ich zum Glück nirgends ausmachen, was aber nicht bedeutet, dass er nicht hier ist. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein Dad ihm erlauben würde zu Hause zu bleiben. Egal worum es geht. Solange Aiden fähig ist sich zu bewegen würde sein Vater ihn zur Schule schicken. Zumindest schlussfolgere ich das dem, was mir über seinen Dad bisher zu Ohren gekommen ist und was ich selbst mit eigenen Augen gesehen habe. Bevor ich mich zu den Zwillingen geselle, tippe ich eine schnelle Nachricht in mein Handy. Alli wird sie später lesen und sich dann sicherlich bei mir melden. Bislang habe ich es vermieden, ihr von dem ganzen Drama zu erzählen. Sie weiß nur von dem Abend an dem ich Aiden vergebens versucht habe zu erreichen. Allison da reinzuziehen erscheint mir im Moment nicht richtig. Sie kennt Aiden nicht weiter und kann mir gerade auch nicht wirklich helfen. Abgesehen von unseren stundenlangen Telefonaten und ihren Ratschlägen, brauche ich einfach Josie, die hier bei mir ist und von mir aus eine Familienpackung Eiscreme aus dem Gefrierfach zaubert. Ein wenig grinsend gehe ich auf die Besagte zu.
»Morgen«, murmle ich den Geschwistern zu.
»Morgen«, erwidert Josie ein wenig genervt. Ethan tut es ihr gleich.
»Ääääähm?«, frage ich gedehnt. Es scheint mir, als wäre ich gerade etwas unpassend aufgetaucht. Beide deuten meine fragende Absicht, doch nur Josie ist der Meinung mich aufzuklären.
»Mein dämlicher Bruder will mir patu nicht verraten, was mit Aiden los ist.«
»Weil es dich im Augenblick nichts angeht Jo. Versteh das doch!«, mischt sich jetzt auch Ethan ein.
»Ich will es aber nicht verstehen. Wie kann es sein, dass er mit seinem Kumpel darüber spricht, aber nicht mit seiner Freundin? Ihr wenigstens eine anständige Erklärung für das alles gibt.« Jo sieht ihren Bruder streng an und fuchtelt mit ihren Armen in der Luft herum.
Ethan setzt gerade zum Sprechen an, als es mir endgültig reicht und ich dazwischen gehe. »Okay, stopp! Aiden ist so wie er ist. Ethan weiß warum, ich nicht. Damit werde ich mich abfinden müssen. Aber es bringt nichts, wenn ihr euch jetzt auch noch streitet.« Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her. Ergeben nicken sie. Keine Entschuldigung, scheint wohl die Entschuldigung der beiden zu sein. Geschwister soll mal einer verstehen.
Ethan humpelt ein Stück zur Seite. Ich sehe ihn mit der Krücke zusammen schon auf dem Boden liegen, doch er fängt sich und legt mir eine Hand auf den Arm. Nicht um sich festzuhalten, nein viel mehr, um meine Aufmerksamkeit ganz auf sich zu ziehen. »Lyn es tut mir leid. Ich würde es dir so gerne sagen, aber ich kann nicht. Das muss Aiden schon selbst tun. Aber bitte versteh, dass er mit jemandem reden musste.«
Ich will gerade protestieren, als Ethan mich eindringlich ansieht. »Jemand der nicht seine Freundin ist.«
Ich seufze. Natürlich kann ich verstehen, dass es Dinge gibt, mit denen man lieber unter Freunden spricht, aber trotzdem versetzt es mir einen Stich, dass Ethan zum gegenwärtigen Zeitpunkt so viel mehr weiß als ich.
»Trotzdem macht es Lyn total fertig. Das ist nicht fair.«, unterstützt Josie mich.
Ethan nickt ergeben. »Das stimmt und das finde ich mit Sicherheit auch nicht gut, aber ich kann einfach nichts sagen. Das muss Aiden schön selbst machen. Sorry.« Ehrlich entschuldigend sieht er zu mir.
Man merkt ihm deutlich an, wie wenig ihm diese Situation passt, vor allem, weil er zwischen den Fronten steht.
»Ich an Aidens Stelle wüsste auch nicht, wie ich mich verhalten sollte.« Er wirft Josie einen ziemlich merkwürdigen Blick entgegen, als würde es ihm helfen auf diese Weise darüber nachzudenken. »Er ist gerade ziemlich durcheinander. Ich kann ihn schon verstehen, aber Lyn du sollst nicht darunter leiden müssen. Jedenfalls jetzt nicht. Ich rede auf jeden Fall nochmal mit ihm.«
Ein wenig irritiert über seine Worte, bringe dann aber doch ein euphorisches »Danke« über die Lippen. Bloß eine Frage bleibt. Wieso soll ich nicht jetzt darunter leiden? Soll ich das zu einem späteren Zeitpunkt? Berechtigt Ethans Wissen ihn zu solchen Annahmen? Würde ich ihm zustimmen, wenn ich die Wahrheit kenne? Eines Tages würde mein Kopf vor lauter Gedanken noch platzen. Vielleicht hätte ich vorhin einfach doch im Bett liegen bleiben sollen. Vermutlich würde ich mir jetzt Bilder von Aiden und mir anschauen und dabei in einem Tränenbad ertrinken, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass das schlimmer wäre, als dieser Augenblick. Und zwar nicht nur dieser eine Moment. Sondern auch die vielen kleinen folgenden. Unsere Blicke, die sich flüchtig begegneten, als Aiden den Klassenraum betreten hat. Oder seine voller Reue matten Augen, als er nur wenige Meter vor mir vor mir in der Schlange der Mensa anstand. Als der Duft seines Parfüms noch in der Luft hing, als ich an der selben Stelle stand, wie er noch kurz zuvor. Ein Vorgeschmack auf die vielen traurigen Momente, die mir noch bevorstanden. Die vielen Stiche, die sich jedes Mal ganz automatisch in mein Herz bohrten. Es jedes Mal aufs Neue entzwei brach.

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